Wissenschaftskonferenz 2015

Titel: Die Generation der Wendekinder - Elaboration eines Forschungsfeldes

Ort: Hertie School of Governance, Berlin

Datum: 26./27. Februar 2015

Projektteam: Adriana Lettrari / Christian Nestler / Nadja Troi-Boeck

Anliegen:

Das Ende der deutschen Teilung wird 2014 und 2015 im Zuge des 25jährigen Jubiläums des Mauerfalls und der Wiedervereinigung erneut in den Fokus der Öffentlichkeit rücken. Bilanzen und Diskussionen um Ost und West aus verschiedenen Perspektiven gehen damit einher.

Die Generationenfrage und die Entwicklung der Wendekinder ist dabei ein Teil der Debatte. Auch 25 Jahre nach dem Ende der DDR ist diese „Generation der Wendekinder“ – eine Generation, die den Mauerfall in Kinder- und Jugendzeit erlebt hat und deren Lebenswegentscheidungen von der Transformation geprägt wurden – aus wissenschaftlicher Perspektive in unterschiedlichen Disziplinen betrachtet worden, aber eine ganzheitliche Analyse ist bisher nicht versucht worden. Die geplante Konferenz möchte über die gemeinsame Diskussion und einen geplanten Sammelband (Herausgegeben durch Adriana Lettrari/Christian Nestler/Nadja Troi-Boeck beim Springer VS-Verlag) diese Forschungslücke interdisziplinär füllen.

Seit dem ersten CfP (Fristende Januar 2014) wurde die Herangehensweise (personell und inhaltlich) konkretisiert. Im Rahmen der Konferenz „Regionale politische Kultur im Vergleich“ an der Universität Rostock am 30./31. Mai 2014, des Vortrages von Adriana Lettrari „Die Frage der Generationen im vereinten Deutschland“ und des Nachwuchswissenschaftler-Kickoff-Workshops ist eine Forschungsgruppe entstanden. Diese besteht aus Martin Koschkar, Adriana Lettrari, Christian Nestler und Nadja Troi-Boeck.

Struktur:

Panel I bis III: Das Wendekind, die Wendekinder als:

    • Individuum: Biographische Einzelfallbetrachtungen, welche individuelle Persönlichkeitsprägungen durch die Erfahrung 1989/Transformation einfangen. Ziel könnte es sein Typologien zu entwerfen jenseits sozioökonomischer Klassifizierungen.
    • gesellschaftliche Gruppe: Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Generationseinheit nach Karl Mannheim. Inwieweit kann die Diversität innerhalb der Gruppe fassbar gemacht werden? Ziel kann es sein die vorhandenen Daten entlang von sozioökonomischen Kennziffern zur Generation zusammenzutragen (quanti. und oder quali.) oder zu erweitern.
    • Objekt: Die Generation im einzelnen oder im ganzen als Gegenstand in bildnerischen/musischen/cineografischen/theatralischen/literarisch Darstellungen.

Das  Tagungsprogramm finden Sie hier.

 

 

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KOSMOS OST - Magazin- und Onlineplattform

Nun feiert Deutschland »25 Jahre Mauerfall« und Marie Scheffzük aus Weimar fragte sich Anfang des Jahres in ihrer Bachelorarbeit im Fach Kommunikationsdesign an der HTWG Konstanz »Ist die Mauer wirklich verschwunden?«. Diese Frage nutzte sie als Ausgangspunkt für ihre Arbeit, denn sie glaubt, dass eine »Mauer in den Köpfen«, hervorgerufen von Klischees und Vorurteilen, noch nicht verschwunden ist. Ziel ihrer Arbeit ist es von der gesellschaftlichen Trennung zwischen Ost und West zu befreien und neue Räume zum Nachdenken und Diskutieren zu schaffen.

Sie war drei Jahre alt, als die Mauer fiel. 25 Jahre nach dem Mauerfall hat sie ein Konzept für eine Zeitschrift und eine Online-Plattform entworfen, das sich den Themen Mauerfall, Wiedervereinigung, dem Leben in der DDR, der Gegenwart und in der Zukunft Deutschlands so sensibel wie klug widmet. Einen passenden Namen trägt das Ganze auch: »Kosmos Ost – Magazin für ganz Deutschland« ergänzt um die Online-Plattform »Kosmos Ost – Der Debattierklub«.

Im »Magazin für ganz Deutschland« will sie mit Portraits, Reportagen, Kurzgeschichten und Fotoessays Einblicke in den Facettenreichtum Ostdeutschlands und neue Anstöße zum Nachdenken geben. Ergänzt werden diese durch Debatten, Kommentare, Kolumnen und Gespräche für ganz Deutschland. All das reicht ihr aber noch nicht, um die »Mauer in den Köpfen« wirklich verschwinden zu lassen: Die Meinung jedes Einzelnen ist ihr besonders wichtig und nicht nur die Redaktion soll die Inhalte für das Magazin produzieren. Aus diesem Grund wird das Magazin um die Online-Plattform »Der Debattierklub« ergänzt. Diese soll zum Spielraum für alle Leser des Magazins werden.

Hier können sie Beiträge posten, kommentieren oder in das Print-Magazin wählen und gestalten so jede Ausgabe selbst mit.
Marie Scheffzük gelingt es so die Thematik neu aufleben zu lassen, Humorvolles und Ernstes zu mischen. Von der Banane, ohne die es natürlich nicht geht, bis zur Montagspredigt, von der Fotostrecke bis zur aktuellen politischen Reflexion. Dabei verharrt das Magazin nicht im Vergangenen, wie so viele Ostalgie-Produkte, sondern es blickt vielmehr ganz bewusst nach vorn, um neue Diskussionen über Ost- und Westdeutschland zu entfachen.

Für ihre Arbeit erhielt sie im Juli 2014 den »Konstanzer Designpreis« und ist nun auf der Suche nach einem Verlag, der die Umsetzung ihres Konzepts unterstützt. Wir würden uns freuen, vielleicht bald eine Ausgabe des »Kosmos Ost« in den Händen halten zu können. Mehr über ihre Arbeit erfahrt ihr auf ihrer Homepage: www.mariescheffzuek.de

 

 

Fotos: kosmos ost


Alle Jahre wieder... Bericht zum Stand der Deutschen Einheit 2014

Wir brauchen einen unverkrampften Umgang miteinander, wie ihn die junge Generation so erfreulich vorlebt. Die Möglichkeiten, sich der gemeinsamen Leistungen in Ost und West bewusst zu werden, sind vielfältig. Im täglichen Umgang miteinander sollte dies eine besondere Rolle spielen. Der Weg zur inneren Einheit kann nur über gegenseitigen Respekt und Anerkennung beschritten werden. (S. 15, Jahresbericht DE 2014)

Jährlich veröffentlicht die Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer den Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit. Der aktuelle Bericht für das Jahr 2014 steht seit kurzem hier zum Download bereit: http://www.beauftragte-neue-laender.de

Nach einer Analyse von Entwicklungsfeldern wie der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit der neuen Ländern, Infrastruktur und soziale Einheit, werden in dem Bericht wichtige Handlungsfelder beschrieben um die "Einheit" weiter voranzubringen. Aber seht selbst...

 


Modell zur "Vermessung" von Generationen - Paper der Forschungsgruppe "Generation 21"

In der neuen Ausgabe von AGOSaktuell ist heute, am 2.10.2014, ein Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion über die Generation der Wendekinder erschienen:

Martin Koschkar/Adriana Lettrari/Christian Nestler: Rostocker Modell zur "Vermessung" von Generationen, in: AGOSaktuell, Nr. 9, 3(2014), S. 7-8.

Das Paper findet sich auf der Seite von AGOSaktuell in der Ausgabe Nr. 9, Oktober 2014

Der Beitrag ist im Rahmen der Arbeit der Forschungsgruppe "Generation 21" (FOG21) entstanden, die mit dem Netzwerk "3te Generation Ostdeutschland" assoziiert ist.


Wissenschaftlicher Sammelband - Vorankündigung

Wir können froh verkünden: Eine wissenschaftliche Veröffentlichung durch Akteure der Netzwerkkoordination des Netzwerks 3te Generation Ost steht bevor! Im Herbst 2015 geben Adriana Lettrari, Christian Nestler und Nadja Troi-Boeck den ersten wissenschaftlichen Sammelband zu Wendekindern heraus. Titel: "Die Generation der Wendekinder - Elaboration eines Forschungsfeldes". Er wird den öffentlichen Diskurs um die Wendekinder durch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema ergänzen. 

Mehr Informationen


Sammelband "Die Generation der Wendekinder - Elaboration eines Forschungsfeldes"

Buch-Cover

Anliegen:

Der öffentliche Diskurs zu den Wendekindern wurde seit der Initiierung des Netzwerkes 3te Generation Ostdeutschland durch  autobiographische Stimmen von Wendekindern geprägt. So unter anderem durch das 2012 erschienene Buch "Dritte Generation Ost. Wer wir sind, was wir wollen". Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Forschungsfeld ist bisher weitestgehend eine Leerstelle.

Auf Grundlage der Beschäftigung in einer Gruppe von Nachwuchswissenschaftler_innen, in den letzten zwei Jahren, ist, mit der Wissenschaftskonferenz im Frühjahr 2015 in Berlin, eine gezielte interdisziplinäre Beschäftigung mit den Wendekindern möglich.

Adriana Lettrari (Uni Bremen), Christian Nestler (Uni Rostock) und Nadja Troi-Boeck (Uni Zürich) geben daher im Herbst 2015 einen wissenschaftlichen Sammelband mit dem Titel "Die Generation der Wendekinder - Elaboration eines Vorschungsfeldes" heraus. Sie sind Teil einer Forschungsgruppe zu Wendekindern, der zudem Martin Koschkar (Uni Rostock) angehört.

 

Eine Veröffentlichtung wird am 10. September 2015 realisiert:

BUCHPREMIERE

Adriana Lettrari . Christian Nestler . Nadja Troi-Boeck (Hrsg.)
„Die Generation der Wendekinder - Elaboration eines Forschungsfeldes“
Springer VS-Verlag
Den Produktflyer finden Sie HIER

10. September 2015 um 10 Uhr
In Anwesenheit der Bundesministerin Manuela Schwesig
Hertie School of Governance . Friedrichstraße 180 . 10117 Berlin
Pressemitteilung_Buchpremiere
Livestream zur Veranstaltung:  Periscope (http://periscope.tv) als Client herunterladen und nach"Leipzig Live TV" als Kanal suchen

Als sich im Jahr 2009/10 die Ereignisse der Friedlichen Revolution und der deutschen Wiedervereinigung zum 20. Mal jährten, gab es in der medialen Vermittlung eine gewisse Diskrepanz. Auf den Podien und in den Beiträgen reflektierten nicht selten inzwischen betagte westdeutsche Herren die Vergangenheit und den Stand der Einheit, verstanden als einen Annäherungsprozess des Ostens an den Westen. Die nachwachsende Generation der Wendekinder schwieg und wurde nicht nur in Presse, Funk und Fernsehen als sehr homogene und wenn überhaupt auffällig, eher negativ konnotierte Gruppe wahrgenommen. Die über 2 Millionen Menschen umfassende Gruppe ist in der DDR geboren aber in beiden politischen Systemen aufgewachsen und sozialisiert worden. Seit 2011 stehen die Wendekinder, welche sich in Teilen selbst mit dem politischen Kunstbegriff Dritte Generation Ostdeutschland bezeichnen, zunehmend im Fokus der Öffentlichkeit sowie der Medien, weil sie eine Position beanspruchen, die der Zuschreibung diametral entgegen läuft. Diese Positionierung leitet sich aus der Tatsache ab, dass sie 25 Jahre nach der Deutschen Einheit Plätze in der Funktionselite, etwa in Landtagen und im Bundestag, eingenommen haben.
Mit dem vorliegenden Band liegt nun eine, die bisherigen wissenschaftlichen Ansätze bündelnde und weiterentwickelnde, transdisziplinäre Betrachtung des Phänomens vor. Dabei wird das Forschungsfeld in den Dimensionen Diskurs, Typen und Positionierung(en) kartiert. Im zweiten Moment ist durch die Bildung eines Analyserasters, dem Rostocker-Generationen-Modell, eine Betrachtung der Frage nach dem „Zusammenwachsen“ der beiden deutschen Staaten gelungen. Die Vielfalt der Beiträge verdeutlicht im Ergebnis eine initiale Erkenntnis: Es handelt sich bei den Wendekindern um eine hochgradig diverse Generation, welcher jedoch aufgrund ihrer doppelten Sozialisation eine ausgleichende triangulierende Vermittlerposition zukommt. Diese könnte sie unter Einbeziehung aller seit 1989/90 durch Transformation geprägter Wendekinder in ihrem zukünftigen Wirken zu einer Schlüsselgeneration Europas avancieren lassen.

Die Gliederung finden Sie hier: Inhaltsverzeichnis

PROGRAMM

10:00 Uhr Begrüßung Leiter Berliner Büro Gemeinnützige Hertie Stiftung Michael Knoll

10:05 Uhr Grußwort Bundesministerin Manuela Schwesig „Mit den Wendekindern ist zu rechnen“

10:15 Uhr Podium  „Wendekinder in der Funktionselite“

Manuela Schwesig (Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend)
Roland Jahn (Leiter der Stasiunterlagenbehörde BStU)
Adriana Lettrari (Herausgeberin Sammelband „Die Generation der Wendekinder“)
Christian Nestler (Herausgeberin Sammelband „Die Generation der Wendekinder“)
Claus Weibrecht (Gründer und Inhaber IronShark) - tbc
Moderation: Michael Knoll (Leiter Berliner Büro Gemeinnützige Hertie Stiftung)

11:00 Uhr Input Christian Nestler bis „Werkzeugkasten der Elaboration und Kartierung des Forschungsfeldes– Ein Überblick"

11:15 Uhr Offenes Podium für Fragen an die Autorinnen und Autoren des Buches

Ansgar Düben (nexus Institut)
Adriana Lettrari (Universität Bremen)
Stefan Meißner (Universität Potsdam)
Christian Nestler (Universität Rostock)
Elisabeth Sitte-Zöllner (Universität Wien)
René Sternberg (Hirschtec Infoarchitects)
Christine von Blanckenburg (nexus Institut)

12:00 Uhr Ausklang

 

 


FOTO: Martin Koschkar 2014

Wendekinder in ostdeutschen Landtagen

Projektteam: Martin Koschkar / Adriana Lettrari / Christian Nestler

Zeitraum der Durchführung: Mai bis Juli 2014

Motivation und Ausgangspunkt:

"Im Zuge der Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag des Mauerfalls wurde 2009 die Frage der Wendegeneration verstärkt thematisiert. Der Gedanke einer „Dritten Generation Ost­deutsch­land“ wurde seither aus verschiedenen Perspektiven diskutiert. Über einen autobio­gra­­phischen Sammelband meldeten sich Vertreter der Generation 2012 zu Wort. Ob die Wendekinder dabei insgesamt eine „politische Generation“ darstellen, wurde bis jetzt jedoch noch kaum erörtert bzw. erforscht. Auf Basis der rudimentären Generationendefinition lässt sich erkennen, dass im Zusammenhang mit einer eventuellen „dritten Generation Ostdeutsch­land“ in einem geringem Maß von einer „Generationseinheit“ ausgegangen werden kann. Die Eigenschaften der Generation, die auf Umbruchserfahrungen im Kinder- und Jugendalter beruhen, scheinen sich im Zuge der Transformation unterschiedlich entwickelt zu haben. Das Phänomen ähnelt den Beobachtungen David Pollocks und Ruth Van Reken im Bezug auf die „Third Culture Kids“. Die Autoren beobachten eine Varianz in der Persönlichkeitsausprägung bei Diplomatenkindern gegenüber monokulturell Aufgewachsenen.

Das durchgeführte Forschungsprojekt leistet vor diesem Hintergrund einen Beitrag zum bes­seren Verständnis der Generation und den Erfahrungen der Transformation. Hierzu wurden bündnis­grüne Abgeordnete der Dritten Generation Ostdeutschland (Kohorte 1975-1985) aus ostdeutschen Landtagen zum Generationsbegriff, ihren Erfahrungen und etwaigen ausgepräg­ten Kompetenzen im Zuge der Transformation befragt:

    • Wie sehen sie die Generation der Wendekinder?
    • Wie waren ihre biografischen Umbruchserfahrungen und welchen Einfluss hatten sie auf den späteren Werdegang hin zur/m Landesparlamentarier/in?

Im Ergebnis wurde erwartet, dass die Aussagen die Definition bzw. Konzepte zur Generation und der Transformationskompetenz (s.u.) erweitern und belastbarer machen. Darüber hinaus wird es möglich sein die Generation in der Gruppe der ostdeutschen, subnationalen Parla­mentarier zu verorten. Letzten Endes werden die Ergebnisse Anknüpfungspunkte für zukünftige Fragen der Wahl-, Parteien-, Parlaments-, Regierungs- und Politischen Kultur­forschung geben können." (Auszug Abschlussbericht)

Wendekinder in den ostdeutschen Landtagen (ohne Berlin) als Landtagsabgeordnete sind derzeit über 130.

Daher hier etwas prominenter Beispiele von Wendekindern in Regierungen (Bund und ostdeutsche Landtage ohne Berlin):

- Manuela Schwesig (SPD, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend)
- Benjamin-Immanuel Hoff (Die LINKE, Chef der Staatskanzleich und Minister für Kultur, Bundes- und    Europaangelegenheiten in Thüringen)
- Anja Siegesmund (Bündnis 90/Die Grünen, Ministerin für Umwelt, Energie und Naturschutz in Thüringen)
- Mathias Brodkorb (SPD; Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur in MV)
- Diana Golze (Die LINKE, Arbeits und Sozialministerin in Brandenburg)
- Sebastian Gemkow (CDU, Staatsminister der Justiz in Sachsen)
- Martin Dulig (SPD, Staatsminister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr in Sachsen)

Koschkar, Martin, Adriana Lettrari und Christian Nestler. 2016. "Grüne Wendekinder" in ostdeutschen Landtagen. In Die Generation der Wendekinder - Elaboration eines Forschungsfeldes, Adriana Lettrari, Christian Nestler und Nadja Troi-Boeck. X-Y. Wiesbaden: Springer VS.

Projektpartner: Heinrich-Böll-Stiftung und Wendekind gUG


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Mecklenburg-Vorpommern als "Laboratorium"

Wissenschaftler Martin Koschkar über Chancen der Wendekindgeneration

- Von Martin Koschkar -

Im Herbst 2014 wird das 25-jährige Jubiläum des Mauerfalls begangen. Jedes Jubiläum lädt dazu ein, zurückzuschauen, aber auch zukünftige Aufgaben zu skizzieren. In 25 Jahren hat sich in den neuen Bundesländern viel verändert. Ein Prozess mit Licht und Schatten und Mecklenburg-Vorpommern stellt keine Ausnahme dar. Die Härten der Transformation waren im Nordosten Deutschlands erheblich spürbar: Wirtschaftlicher Umbau, Arbeitslosigkeit und Abwanderung prägen nicht nur die Außenwahrnehmung MVs. Gleichzeitig erstrahlen Hansestädte in neuem Glanz und sind mit einer Küstenautobahn verbunden, das Land ist erfolgreiche Tourismusdestination und Gesundheitswirtschaft und Erneuerbare Energien haben sich zu Zukunftsfeldern entwickelt. Das „Land am Rand“ bietet Chancen für neue Wege und nicht jeder negative Aspekt beruht auf der oft zitierten tradierten Rückständigkeit der Mecklenburger und Vorpommern. Im Sinne eines „Laboratoriums“ bietet Mecklenburg-Vorpommern die Möglichkeit Folgen und Entwicklungen der Transformation und Prozesse wie Binnenmigration und demografischen Wandel zu verstehen, und aus ihnen zu lernen.

Dies betrifft auch die so genannte „Dritte Generation Ost“, die seit 2009 in verschiedenen Initiativen auf sich aufmerksam gemacht hat. Sie wird seither vielfältig diskutiert, eine erste selbstbesetzte Bezeichnung verortete die Generation in den Jahrgängen 1975 bis 1985 in der DDR Geborener. Das betrifft etwa 2,4 Millionen Menschen.
Diese nicht-wissenschaftliche Eingrenzung tangiert auch mich: Als gebürtiger Mecklenburger des Jahrgangs 1982 bin ich im Sommer 2012 auf die „Dritte Generation Ost“ aufmerksam geworden. Als Politikwissenschaftler arbeite ich seither in verschiedenen Projekten, um die Rolle der Generation im Deutschland des 21. Jahrhunderts besser zu verstehen. Die Entwicklung meines Heimatbundeslandes Mecklenburg-Vorpommern liegt mir dabei besonders am Herzen. Trotz vieler Probleme sehe ich hier auch klare Chancen – MV als „Laboratorium“: Die Generation der Wendekinder kann und muss hier einen aktiven Beitrag leisten.

Die „Dritte Generation Ost“ ist dabei keine festgefügte Gruppierung für die jemand in Allgemeingültigkeit sprechen kann, sondern eher ein Gedanke oder eine Vision, woraus jedoch aktives Handeln von Menschen entsteht. Unter dem Motto hat sich ein Netzwerk – Die „3te Generation Ost“ – etabliert, das Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten zusammenführt. Alle eint die Umbruchserfahrung von 1989/90 und der folgende Transformationsprozess. Im Rahmen des Netzwerkes hat sich eine kleine Untergruppe von Geistes- und Sozialwissenschaftlern gebildet, die gezielt an der Erforschung der Generationenfrage arbeitet. Hier möchte auch ich meinen Beitrag leisten. Ich sehe dabei drei zentrale Punkte: Die Eigenschaften der Wendekinder, die Rolle der Generation im politischen System und die Debatte um unsere Beitrag im Deutschland des 21. Jahrhunderts.

Die Eigenschaften von Wendekindern werden seit dem Generationentreffen 2013 in Berlin unter dem Stichwort „Transformationskompetenz“ diskutiert und erforscht: Haben Menschen mit einer doppelten Sozialisation – d.h. Kinder- und Jugendzeit sowohl in DDR als auch BRD – durch die Erfahrung der Transformation bestimmte Eigenschaften entwickelt, die sie sich auch heute nutzbar machen können? Kompetenzen zur Bewältigung von Transformationsprozessen, also der Umgang mit Wechsel und Wandel wären denkbar. In Berlin wurden mit einem Augenzwinkern Begriffe diskutiert wie „Phönix-Kompetenz“ – nach dem mythischen Vogel, der verbrennt, um aus seiner Asche wieder neu zu erstehen – oder auch „MacGyver-Kompetenz“ – mit Blick auf den kreativen Umgang, mit einfachsten Möglichkeiten Situationen zu meistern. Dies ist auch ohne Augenzwinkern eine spannende Frage: Solche Erfahrungen können für Menschen in anderen Ländern interessant sein, die Transformationsprozesse durchlaufen. Wir versuchen momentan diese Eigenschaften besser zu verstehen und wissenschaftlich zu erschließen. In einem Projekt werden an der Fallgruppe ostdeutscher Landtagsabgeordneter erste Hypothesen untersucht. Die Ergebnisse können im Herbst der Öffentlichkeit präsentiert werden.

Der zweite Punkt betrifft die Ausprägung der „Dritten Generation Ost“ allgemein. Auf Basis der ersten Ergebnisse gibt es die Bemühung, die Forschungsfragen auf weitere Personenkreise auszuweiten und so die Verortung im politischen System der BRD besser zu verstehen. Die Betrachtung von Ehrenamt und Zivilgesellschaft sind hier ebenso enthalten wie die Analyse von Abgeordneten, Regierungs- und Verwaltungsmitarbeitern. Ein weiterer Schwerpunkt bildet die Wahlforschung: Wählen Wendekinder anders? Am Beispiel Mecklenburg-Vorpommern zeigt sich mit Blick auf die letzten 25 Jahre, dass zunächst eine große Abwanderung der entsprechenden Alterskohorte attestiert werden muss. In der zunehmend überalterten Mitgliederstruktur der Parteien nehmen die Wendekinder eine Minderheitenposition ein. Das Wahlverhalten ist ambivalent – im städtischen Bereich profitieren insbesondere Bündnis 90 / Die Grünen von Wählerinnen und Wählern der Altersgruppe, im ländlichen Vorpommern hat die NPD einen überdurchschnittlichen Zulauf. Auch hieraus ergeben sich weitere Untersuchungsfragen, von denen auch Maßnahmen der politischen Bildung, der Präventions- und Aufklärungsarbeit profitieren können. Fakt ist, dass die Altersgruppe für öffentliche Positionen an Bedeutung gewinnt. Dies war bereits in Ansätzen bei der Kommunalwahl 2014 erkennbar. In der ehrenamtlichen Arbeit – politisch und zivilgesellschaftlich – zeichnet sich ein zunehmender Generationenwechsel ab. Wendekinder werden auf der Suche nach neuem Personal für ehrenamtliche Bürgermeister- oder Vereinsposten eine aktive Rolle spielen müssen.

Dies führt zum dritten Punkt: Der Debatte um den Beitrag einer „Dritten Generation Ost“ im Deutschland des 21. Jahrhunderts. Ich glaube, dass der Gedanke dieser Generation lebendig ist, auch in Mecklenburg-Vorpommern. Viele der Wendekinder haben sich vielleicht über eine lange Zeit nicht mit ihrer Herkunft oder mit den Erlebnissen aus ihrer Kindheit und Jugend auseinandergesetzt. Etwa, weil sie damit zu tun hatten, ihren Platz in der neuen Gesellschaft zu finden. Heute fragen sie sich jedoch: Was hat der Transformationsprozess mit mir gemacht? Wie habe ich die Umbruchszeit oder die doppelte Sozialisation vor und nach 1989/90 erlebt, wie meine Eltern und Freunde? Im Regionalnetzwerk der „3ten Generation Ost MV“ spielt deshalb auch die Biografienarbeit eine zentrale Rolle. Beim regionalen Generationentreffen im Mai 2014 in Rostock gab es einen entsprechenden Workshop, auf den weitere Veranstaltungen folgen werden. Mit Blick auf die Vergangenheit wird dabei jedoch stets die zukünftige Entwicklung mitgedacht. Diese beiden Perspektiven schließen sich nicht aus, sondern sollten Grundlage unseres Handelns bleiben. Das Regionalnetzwerk kann hierbei Anlaufpunkt für alle Interessierten sein.

Die Verantwortung für die zukünftige Gestaltung unseres Bundeslandes sollte ein Maßstab für unseren Beitrag sein. Die Dagebliebenen der „Dritten Generation Ost“ in MV müssen sich mit den Abgewanderten, Zurückgekommenen und den Zugewanderten dieser Aufgabe bewusst sein und die aktuellen und zukünftigen Probleme gemeinsam angehen. Das „Laboratorium“ Mecklenburg-Vorpommern setzt dabei Kreativität, innovativen Aktivitäten und Projekten positive Rahmenbedingungen. Diese gilt es zu nutzen. Jede und Jeder kann sich einbringen.

hier findet ihr alle Beiträge der Reihe "alles-mv.de"

zur Website http://www.alles-mv.de/

 


FOTO: Ronny Keller

Aufgewachsen in zwei Kulturen

Netzwerk 3te Generation Ostdeutschland in Mecklenburg-Vorpommern aktiv

- Interview mit Adriana Lettrari -

Die zwischen 1975 und 1985 in der DDR geborenen Menschen zusammenzubringen und sichtbar zu machen, ist die Idee des Netzwerkes „3te Generation Ostdeutschland“, eine Initiative, die 2010 von neun engagierten Menschen gegründet wurde. Eine der Initiatorinnen war und ist Adriana Lettrari, geboren in Neustrelitz und aufgewachsen in Rostock. Sie fragte sich, warum der Osten, seine Geschichte und seine Zukunft fast ausschließlich von Männern im fortgeschrittenen Alter wie Wolfgang Thierse oder Gregor Gysi vertreten werden. Mittlerweile sind etwa 2.000 Menschen mit dem Netzwerk verbunden – Tendenz steigend. In Mecklenburg-Vorpommern wurde im Juni 2013 ein Regionalnetzwerk gegründet. Gerade wegen eines hohen Durchschnittsalters der hiesigen Bevölkerung sowie einer großen Abwanderung der Dritten Generation Ostdeutschland in den letzten zwanzig Jahren sehen es die Akteure umso notwendiger an, dass sich die Dritte Generation in Mecklenburg-Vorpommern mit den Dagebliebenen, Abgewanderten, Zurückgekommenen aber auch Zugewanderten als die zukünftigen Gestalterinnen und Gestalter des Bundeslandes begreift.

Alles-mv.de wird ab sofort jeden Monat einen Gastbeitrag aus dem Regionalnetzwerk “3te Generation Ostdeutschland” veröffentlichen. Den Auftakt macht Adriana Lettrari, die Fragen zur Arbeit des Netzwerkes beantwortet.

Alles-mv.de: Wer genau verbirgt sich hinter der Dritten Generation Ostdeutschland?

Adriana Lettrari: Zu dieser Generation zählen alle, die nach der Wende im vereinten Deutschland aufgewachsen sind, aber ihre Kindheit oder zumindest Teile davon in der DDR verlebt haben. Es geht um 2,4 Millionen Menschen der Jahrgänge 1975 bis 1985, die heute 29 bis 39 Jahre alt sind. Viele von ihnen haben ihre Herkunftsorte verlassen. Weil sie das selbst entschieden haben oder weil sie mit ihren Eltern weggezogen sind. Sie leben in Westdeutschland, aber auch in der Schweiz oder in den USA.

Warum ist es heute – fast 25 Jahre nach dem Fall der Mauer – wichtig, sich mit der Vergangenheit zu befassen?

Die Dritte Generation Ost ist im Kindes- und Jugendalter in zwei Kulturen aufgewachsen – ähnlich wie Diplomatenkinder, die sich ökonomisch und gesellschaftlich kaum diametraler hätten gegenüber stehen können. Nach der Wende war das gesamte Umfeld von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt. Wir mussten uns in einer komplett neuen Gesellschaft mit einer vollständig neuen Werte- und Handlungsorientierung zurechtfinden. Dafür gab es keine Anleitung, wir haben es einfach getan. Und bislang wurde auch kaum darüber gesprochen. Es gibt jedoch ein großes Bedürfnis, sich mit diesem Teil der eigenen Biografie auseinanderzusetzen. Das haben wir gemerkt, als wir vor vier Jahren mit der Netzwerkarbeit begonnen haben.

Warum wurde die Vergangenheit so lange ausgeblendet?

Viele Wendekinder distanzieren sich – ob bewusst oder unbewusst – von ihrer Herkunft. Sie schieben das Thema von sich weg. Unserer Ansicht nach liegt das zu einem großen Teil daran, dass es gesellschaftlich nur sehr wenig Raum gibt, sich damit auseinandersetzen. Häufig wird uns sogar abgesprochen, dass diese Vergangenheit noch eine Rolle spielen würde, wir seien doch „westdeutsche Kinder“. Aber das ist Unsinn. Unsere Eltern, die in der DDR sozialisiert sind, sind ja unsere Eltern geblieben. Sie sind natürlich auch durch einen Wandlungsprozess gegangen. Aber der war ja nicht am 9. November 1989 abgeschlossen und uns wurden nicht von einem Tag auf den anderen völlig andere Dinge vermittelt.

Was kann man als Wendekind aus der Beschäftigung mit der eigenen Biografie lernen?

Wir beschäftigen uns damit, dass wir in sehr kurzer Zeit einen sehr einschneidenden Wandel bewältigt haben. Wir fragen uns: Wie habe ich das erlebt? Was hat es für mich und mein Leben bedeutet? Wie fremd- oder selbstbestimmt habe ich mich dabei entwickeln können?

Wir gehen davon aus, dass es so etwas wie eine Transformationskompetenz gibt. Sie entsteht dadurch, dass man die eigene Erfahrung reflektiert und daraus Handwerkszeug ableitet. Um solche Erkenntnisse zu fördern, haben Sie mit anderen Personen das „Netzwerk 3te Generation Ostdeutschland“ gegründet. Wie kann man Mitglied im Netzwerk werden? Braucht es hierfür gewisse Voraussetzungen?

Teilhaben am Netzwerk können grundsätzlich alle interessierten Personen, Projektteams und Organisationen. Diese können entweder ein Projekt bearbeiten oder sich als Kooperationspartner anbieten. Wir sind besonders interessiert an sich neu gründenden Projekten und Organisationen, die aus der besonderen Transformationskompetenz der Wendekinder heraus aktuelle und zukünftige ökonomische, zivilgesellschaftliche, ökologische und soziale Herausforderungen zu Lösungen führen. Aber auch bestehende Initiativen und Institutionen, die den Aufarbeitungsdiskurs Ost-West bisher aktiv (Gedenkstätten, zivilgesellschaftliche Organisationen) getragen haben können uns ansprechen, – wir versuchen, diese einzubinden und sie mit dem Generationszusammenhang („Dritte Generation“) in Verbindung setzen.

Was muss man mitbringen um im Netzwerk aktiv zu werden?

Eigeninitative und Interesse am Diskurs über die Transformation 1989 bis heute – das betrifft für uns nicht nur die DDR, sondern eben auch die Bundesrepublik in ihrem Zusammenspiel zwischen Ost- und Westdeutschland. Ebenso die Bereitschaft, sich selbstverantwortlich einem Thema zu widmen und ein persönlich passendes Format zu finden, um das Thema alleine oder mit anderen zu bearbeiten. Und Inspiration den Deutsch-Deutschen Dialog auch sozial und kulturell zukunftsgerichtet zu gestalten und dabei die Europäische Perspektive mitzudenken (Dialog Ost-/Westeuropa).

Adriana Lettrari wurde 1979 in Neustrelitz geboren und ist aufgewachsen in Rostock. Sie ist Politik- und Kommunikationswissenschaftlerin und arbeitete bis 2011 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Bundestag, als Fraktionsgeschäftsführerin im Landtag Mecklenburg-Vorpommern sowie als Systemische Beraterin bei Königswieser&Network. 2011 gründete sie die Wendekind gUG, die der Initiative 3te Generation Ostdeutschland den rechtlichen Rahmen gibt. Für ihr zivilgesellschaftliches Engagement erhielt sie 2009 den HBS-Engagementpreis der Hans-Böckler-Stiftung. Derzeit promoviert sie in Bremen. Zusammen mit ihren Mitgründern des Netzwerkes 3te Generation Ostdeutschland hat sie 2012 das Buch »Dritte Generation Ost – Wer wir sind, was wir wollen« veröffentlicht, das im Verlag Ch. Links erschienen ist. Lesen Sie dazu unseren Beitrag “Wenn plötzlich alles anders ist“.

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Von Heimatlosigkeit und Heimatersatz

Gastbeitrag: Ein ganz persönliches Essay über die Suche nach Identität

- Von Nadja Troi-Boeck –

Nein, eigentlich bin ich nicht heimatlos. Natürlich habe ich eine Heimat, geboren wurde ich 1980 in Rostock. Und doch habe ich den Eindruck, nicht ganz dazu zu gehören oder nicht genau zu wissen, wo ich hingehöre. Das hat meinen Lebensweg geprägt.

In meiner Pubertät, das war Mitte der Neunziger, sprachen wir in der Schulklasse immer wieder darüber, dass wir weg wollten aus Deutschland. Es war beinahe unser Slogan für die Zukunft. Dieser Slogan hatte, aus heutiger Sicht betrachtet, wenig mit einer Abneigung gegenüber Deutschland an sich zu tun, sondern mit dem Gefühl, das uns alle prägte: Mitten in der Zeit, in der Jugendliche am stärksten auf der Suche nach der eigenen Identität als junge Erwachsene sind, waren alle Sicherheiten, die unsere Kindheit geprägt hatten, durch die Wende verschwunden. Unabhängig davon, ob es gute oder schlechte Sicherheiten waren bzw. welche Unfreiheiten mit ihnen einhergingen, erforderte ihr Wegbrechen von allen, ihre Lebensentwürfe neu auszurichten. So begann auch für meine Eltern und für uns Kinder die Suche danach, was uns nun ausmacht, wo wir nun hingehören, dazugehören, in diesem vereinten Deutschland.

Damit einher ging das Gefühl der Unsicherheit, in was für einem Land wir denn nun eigentlich angekommen waren, welche Identitäten wir in diesem Land hatten. Für mich als Kind wurde das besonders spürbar durch die neue Arbeit meines Vaters, die bedingte, dass er während der Woche nicht zu Hause lebte, sondern nur am Wochenende da war. Wichtig waren immer die Gespräche mit meinen Eltern darüber, wie denn die DDR „eigentlich war“, denn ich war noch nicht ganz neun Jahre alt als die Mauer fiel und so prägte mich in der Pubertät das Gefühl, nicht so genau zu wissen, was das für ein Land war, in dem ich aufgewachsen war, aber auch nicht wirklich zu Hause zu sein in diesem neuen Land. Das ist für mich auch ein Grund für unseren Slogan als Jugendliche: Weg aus Deutschland. Es war dieses Gefühl der Heimatlosigkeit, das uns begleitete.

Vielleicht fiel mir auch deshalb das Fortgehen nicht schwer. Während des Studiums ging ich zuerst in die USA, um dort allerdings zu merken, dass ich mich als Europäerin fühlte und nicht als Amerikanerin und dann führte mein Weg in die Schweiz. Und es ist wohl keine Neuigkeit, wenn ich berichte, dass es als Deutsche in der Schweiz nicht ganz einfach ist. Jedes Mal, wenn ich den Mund öffne, ist klar, dass ich nicht dazugehöre, keine Schweizerin bin, denn die jeweils lokalen Dialekte der Schweiz kann ich, obwohl ich seit mehr als 10 Jahren hier lebe, nicht sprechen.
Immer wieder dieses Gefühl, nicht ganz dazu zu gehören, das ich vor allem als eine große Chance erlebe. Als Möglichkeit, einen Blick aus der Außenperspektive einzunehmen, mich ohne große Schwierigkeiten auf Neues einzulassen und mich auch schnell wieder zurecht zu finden, wenn es unerwartete Umbrüche und Ereignisse gibt.
Diese erlebte Heimatlosigkeit hat mir wohl besonders bewusst gemacht, dass nichts von unendlicher Dauer ist. Ich habe erlebt, dass nicht nur Menschen kommen und gehen, Beziehungen beginnen und enden, sondern auch Staaten und Gesellschaften sich grundlegend verändern können.

Doch könnte solche Heimatlosigkeit und das Wissen um die Endlichkeit von allen Dingen nicht auch in den Fatalismus führen? Was macht dann eigentlich noch Sinn? Hier muss ich nun meine andere Geschichte erzählen, die meinen Werdegang bis heute prägt. Es ist die Geschichte meiner persönlichen Suche nach einem Sinn dieser Heimatlosigkeit.
Sie begann mit einem Jugendchor, einem kirchlichen Jugendchor, dem ich 1995 beitrat. Als Kind war ich nicht getauft worden und Religion, Kirche und Glauben spielten in unserer Familie keine Rolle. Letztlich hatte meine Entscheidung, mich mit 18 taufen zu lassen eben etwas mit der Suche nach einer eigenen Identität zu tun. Bewusst wurde mir das erst wirklich, als ich meine Doktorarbeit zum Thema der sozialen Identität schrieb und Menschen dazu interviewte, warum es ihnen wichtig ist, religiösen Gemeinschaften anzugehören.

Alles_mv_de_NadjaTroi_Boeck_PorträtAls Jugendliche wollte ich zuerst einmal dazugehören, fast alle anderen im Jugendchor waren getauft und ich fand es einfach toll, wie wir gemeinsam durch Mecklenburg wanderten und jeden Abend in einer anderen Kirche sangen. Um zum Chor zu gehören und mitzusingen musste ich mich nicht taufen lassen, alle waren willkommen. Aber für mich war die Taufe als Jugendliche ein Zeichen, wirklich dazu zu gehören. Doch schnell merkte ich, dass es doch nicht so einfach war mit dem Dazugehören. Hatte ich vorher nie etwas von evangelikalen Christinnen und Christen gehört, erlebte ich nun, dass es Menschen gab, die zwischen „Glauben“ und „Richtig-Glauben“ unterschieden. Dieser Fanatismus war für mich zutiefst befremdend. Und im Theologiestudium an einer ostdeutschen Universität kam mir immer wieder der Eindruck, ich stünde auf der falschen Seite, denn im Theologiestudium und in kirchlichen Kreisen in Ostdeutschland fanden sich vor 15 Jahren fast ausschließlich Menschen, die zu DDR-Zeiten in der Kirche engagiert gewesen und damit fast immer auch im politischen Widerstand waren. Ich kam aber aus einer Familie, die mit Kirche nichts zu tun hatte. Die Verletzungsgeschichten dieser Menschen müssen Gehör finden, aber ich merkte, wie ich es schwierig fand, mit meiner Geschichte gehört zu werden.

Wieder keine Heimat, auch keine Glaubensheimat, auch deshalb ging ich fort, konnte in den USA verschiedenste Glaubensrichtungen kennenlernen und fand in der reformierten Kirche der Schweiz eine Kirche, die sich als „offene Such- und Weggemeinschaft“ definiert und bekenntnisfrei ist. Eine pluralistische Sichtweise auf Glauben war hier möglich und so war es für mich möglich, hier einen Arbeitsort zu finden.
Und heute bin ich Pfarrerin und doktorierte Theologin und spreche mit meinen Konfirmandinnen und Konfirmanden darüber, was sie eigentlich glauben, was ihnen wichtig ist im Leben und was ihnen einen Sinn gibt.

Ohne Kirche, ohne Religion aufzuwachsen, war für mich völlig normal und Menschen, die keiner Kirche angehören sind für mich auch heute sehr wichtige Gesprächspartnerinnen und -partner – gerade auch als Pfarrerin. Denn sie können oft viel unbeeinflusster benennen, wo Theologie, theologische Sprache zu Floskeln verkommt, sie hinterfragen nur Dahergesagtes und fordern mich durch Kritik auch oft heraus, klarer auf den Punkt zu bringen, wie ich Glauben und das Leben im 21. Jahrhundert überein bringe. Und ich bin völlig überzeugt, dass Menschen, die sich nicht als kirchlich oder gläubig bezeichnen, an etwas glauben, ihre eigenen Antworten darauf haben, was das Leben lebenswert macht.

Ist also der Glaube meine Heimat geworden? Heimatersatz? Was mir Sinn auf dieser Suche gab, ist eine Aussage des christlichen Glaubens, dass nichts auf Erden unendlich ist. Es heißt: Wir haben hier keine bleibende Statt. So hatte ich es erlebt und das hatte mich geprägt. Selbst wenn ich Menschen um mich habe, die mir Heimat geben, kann das irgendwann vorbei sein. Und doch habe ich etwas wie Heimat gefunden, die währt, weil sie über mich und uns als Menschen hinausweist, denn die für mich wichtigste Aussage des christlichen Glaubens ist, dass es weitergeht, auch wenn alles dagegenspricht.

Aus entwicklungspsychologischer Sicht gehört das Herstellen von Sinnkohärenz zu einer der Grundkompetenzen, die Menschen entwickeln müssen, um ihr Leben bewältigen zu können. Ist meine Sinnsuche als Wendekind anders verlaufen als sie gewesen wäre, wenn ich die Wende nicht erlebt hätte? Ich kann mir zumindest vorstellen, dass der Aspekt der Heimatlosigkeit mich dann nicht so stark ansprechen würde und ich ihm weniger Positives abgewinnen könnte, als ich es heute tue.

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