Gastbeitrag: Ein ganz persönliches Essay über die Suche nach Identität

– Von Nadja Troi-Boeck –

Nein, eigentlich bin ich nicht heimatlos. Natürlich habe ich eine Heimat, geboren wurde ich 1980 in Rostock. Und doch habe ich den Eindruck, nicht ganz dazu zu gehören oder nicht genau zu wissen, wo ich hingehöre. Das hat meinen Lebensweg geprägt.

In meiner Pubertät, das war Mitte der Neunziger, sprachen wir in der Schulklasse immer wieder darüber, dass wir weg wollten aus Deutschland. Es war beinahe unser Slogan für die Zukunft. Dieser Slogan hatte, aus heutiger Sicht betrachtet, wenig mit einer Abneigung gegenüber Deutschland an sich zu tun, sondern mit dem Gefühl, das uns alle prägte: Mitten in der Zeit, in der Jugendliche am stärksten auf der Suche nach der eigenen Identität als junge Erwachsene sind, waren alle Sicherheiten, die unsere Kindheit geprägt hatten, durch die Wende verschwunden. Unabhängig davon, ob es gute oder schlechte Sicherheiten waren bzw. welche Unfreiheiten mit ihnen einhergingen, erforderte ihr Wegbrechen von allen, ihre Lebensentwürfe neu auszurichten. So begann auch für meine Eltern und für uns Kinder die Suche danach, was uns nun ausmacht, wo wir nun hingehören, dazugehören, in diesem vereinten Deutschland.

Damit einher ging das Gefühl der Unsicherheit, in was für einem Land wir denn nun eigentlich angekommen waren, welche Identitäten wir in diesem Land hatten. Für mich als Kind wurde das besonders spürbar durch die neue Arbeit meines Vaters, die bedingte, dass er während der Woche nicht zu Hause lebte, sondern nur am Wochenende da war. Wichtig waren immer die Gespräche mit meinen Eltern darüber, wie denn die DDR „eigentlich war“, denn ich war noch nicht ganz neun Jahre alt als die Mauer fiel und so prägte mich in der Pubertät das Gefühl, nicht so genau zu wissen, was das für ein Land war, in dem ich aufgewachsen war, aber auch nicht wirklich zu Hause zu sein in diesem neuen Land. Das ist für mich auch ein Grund für unseren Slogan als Jugendliche: Weg aus Deutschland. Es war dieses Gefühl der Heimatlosigkeit, das uns begleitete.

Vielleicht fiel mir auch deshalb das Fortgehen nicht schwer. Während des Studiums ging ich zuerst in die USA, um dort allerdings zu merken, dass ich mich als Europäerin fühlte und nicht als Amerikanerin und dann führte mein Weg in die Schweiz. Und es ist wohl keine Neuigkeit, wenn ich berichte, dass es als Deutsche in der Schweiz nicht ganz einfach ist. Jedes Mal, wenn ich den Mund öffne, ist klar, dass ich nicht dazugehöre, keine Schweizerin bin, denn die jeweils lokalen Dialekte der Schweiz kann ich, obwohl ich seit mehr als 10 Jahren hier lebe, nicht sprechen.
Immer wieder dieses Gefühl, nicht ganz dazu zu gehören, das ich vor allem als eine große Chance erlebe. Als Möglichkeit, einen Blick aus der Außenperspektive einzunehmen, mich ohne große Schwierigkeiten auf Neues einzulassen und mich auch schnell wieder zurecht zu finden, wenn es unerwartete Umbrüche und Ereignisse gibt.
Diese erlebte Heimatlosigkeit hat mir wohl besonders bewusst gemacht, dass nichts von unendlicher Dauer ist. Ich habe erlebt, dass nicht nur Menschen kommen und gehen, Beziehungen beginnen und enden, sondern auch Staaten und Gesellschaften sich grundlegend verändern können.

Doch könnte solche Heimatlosigkeit und das Wissen um die Endlichkeit von allen Dingen nicht auch in den Fatalismus führen? Was macht dann eigentlich noch Sinn? Hier muss ich nun meine andere Geschichte erzählen, die meinen Werdegang bis heute prägt. Es ist die Geschichte meiner persönlichen Suche nach einem Sinn dieser Heimatlosigkeit.
Sie begann mit einem Jugendchor, einem kirchlichen Jugendchor, dem ich 1995 beitrat. Als Kind war ich nicht getauft worden und Religion, Kirche und Glauben spielten in unserer Familie keine Rolle. Letztlich hatte meine Entscheidung, mich mit 18 taufen zu lassen eben etwas mit der Suche nach einer eigenen Identität zu tun. Bewusst wurde mir das erst wirklich, als ich meine Doktorarbeit zum Thema der sozialen Identität schrieb und Menschen dazu interviewte, warum es ihnen wichtig ist, religiösen Gemeinschaften anzugehören.

Alles_mv_de_NadjaTroi_Boeck_PorträtAls Jugendliche wollte ich zuerst einmal dazugehören, fast alle anderen im Jugendchor waren getauft und ich fand es einfach toll, wie wir gemeinsam durch Mecklenburg wanderten und jeden Abend in einer anderen Kirche sangen. Um zum Chor zu gehören und mitzusingen musste ich mich nicht taufen lassen, alle waren willkommen. Aber für mich war die Taufe als Jugendliche ein Zeichen, wirklich dazu zu gehören. Doch schnell merkte ich, dass es doch nicht so einfach war mit dem Dazugehören. Hatte ich vorher nie etwas von evangelikalen Christinnen und Christen gehört, erlebte ich nun, dass es Menschen gab, die zwischen „Glauben“ und „Richtig-Glauben“ unterschieden. Dieser Fanatismus war für mich zutiefst befremdend. Und im Theologiestudium an einer ostdeutschen Universität kam mir immer wieder der Eindruck, ich stünde auf der falschen Seite, denn im Theologiestudium und in kirchlichen Kreisen in Ostdeutschland fanden sich vor 15 Jahren fast ausschließlich Menschen, die zu DDR-Zeiten in der Kirche engagiert gewesen und damit fast immer auch im politischen Widerstand waren. Ich kam aber aus einer Familie, die mit Kirche nichts zu tun hatte. Die Verletzungsgeschichten dieser Menschen müssen Gehör finden, aber ich merkte, wie ich es schwierig fand, mit meiner Geschichte gehört zu werden.

Wieder keine Heimat, auch keine Glaubensheimat, auch deshalb ging ich fort, konnte in den USA verschiedenste Glaubensrichtungen kennenlernen und fand in der reformierten Kirche der Schweiz eine Kirche, die sich als „offene Such- und Weggemeinschaft“ definiert und bekenntnisfrei ist. Eine pluralistische Sichtweise auf Glauben war hier möglich und so war es für mich möglich, hier einen Arbeitsort zu finden.
Und heute bin ich Pfarrerin und doktorierte Theologin und spreche mit meinen Konfirmandinnen und Konfirmanden darüber, was sie eigentlich glauben, was ihnen wichtig ist im Leben und was ihnen einen Sinn gibt.

Ohne Kirche, ohne Religion aufzuwachsen, war für mich völlig normal und Menschen, die keiner Kirche angehören sind für mich auch heute sehr wichtige Gesprächspartnerinnen und -partner – gerade auch als Pfarrerin. Denn sie können oft viel unbeeinflusster benennen, wo Theologie, theologische Sprache zu Floskeln verkommt, sie hinterfragen nur Dahergesagtes und fordern mich durch Kritik auch oft heraus, klarer auf den Punkt zu bringen, wie ich Glauben und das Leben im 21. Jahrhundert überein bringe. Und ich bin völlig überzeugt, dass Menschen, die sich nicht als kirchlich oder gläubig bezeichnen, an etwas glauben, ihre eigenen Antworten darauf haben, was das Leben lebenswert macht.

Ist also der Glaube meine Heimat geworden? Heimatersatz? Was mir Sinn auf dieser Suche gab, ist eine Aussage des christlichen Glaubens, dass nichts auf Erden unendlich ist. Es heißt: Wir haben hier keine bleibende Statt. So hatte ich es erlebt und das hatte mich geprägt. Selbst wenn ich Menschen um mich habe, die mir Heimat geben, kann das irgendwann vorbei sein. Und doch habe ich etwas wie Heimat gefunden, die währt, weil sie über mich und uns als Menschen hinausweist, denn die für mich wichtigste Aussage des christlichen Glaubens ist, dass es weitergeht, auch wenn alles dagegenspricht.

Aus entwicklungspsychologischer Sicht gehört das Herstellen von Sinnkohärenz zu einer der Grundkompetenzen, die Menschen entwickeln müssen, um ihr Leben bewältigen zu können. Ist meine Sinnsuche als Wendekind anders verlaufen als sie gewesen wäre, wenn ich die Wende nicht erlebt hätte? Ich kann mir zumindest vorstellen, dass der Aspekt der Heimatlosigkeit mich dann nicht so stark ansprechen würde und ich ihm weniger Positives abgewinnen könnte, als ich es heute tue.

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