1. Juni 2012 | 19:26 Uhr

 

Der Teamgeist kommt immer mehr in Fahrt, die Mannschaft hat sich eingegroovt und auch die Sonne bricht hier und da mal durch die Wolkendecke, als wir Neubrandenburg ansteuern. Zwischen den Schwedter Plattenbauten und denen in der Stadt im Zentrum der Mecklenburgischen Seenplatte liegen – malerisch, aber wahr – saftig grüne Wiesen, von Kornfeldern, strahlend-gelbem Raps und tiefrotem Klatschmohn durchsetzt. Aaaaahhhs und Ooooohhhs klingen durch den Bus und immer wieder raunt ein Staunen durch die Reihen, wenn Filmemacher Gunther Scholz und Kameramann Florian Lampersberger mal wieder mit dem Auto an uns vorbeigerauscht sind und sich an einer Landstraßenkurve postiert haben, um unseren schicken Bus im Vorbeifahren zu filmen.

Wir checken etwas außerhalb im Sportinternat ein und ziehen neugierige Blicke auf uns, als wir ins belebte Stadtzentrum fahren. Unser Positionsspiel auf den Marktplatz wird zunehmend besser, doch auch in Neubrandenburg ist es nicht einfach, mit der dritten Generation ins Gespräch zu kommen. Selbst die Neugierigen machen dann doch lieber einen Bogen um uns. Ein paar Stimmen können wir trotzdem einfangen, und auch von den Herausforderungen erfahren, mit denen Neubrandenburg kämpft: Wenige Jobs und mageres Freizeitprogramm für junge Menschen, ganze Straßenzüge mit über 80 Prozent Hartz-IV-Empfängern, Gettoisierung. Doch auch von Lichtblicken, wie einer wachsenden alternativen Szene, erzählen uns die Passanten.

Ganz andere Eindrücke bringen einige von den Schulworkshops mit. „Eva“, die evangelische Schule St. Marien, wurde von einer Elterninitiative ins Leben gerufen, einer kleinen bürgerlichen Schicht, zu der vor allem Zugezogene aus den alten Bundesländern zählen. Wende und DDR-Vergangenheit sind für die Schüler dann auch kaum Thema, die Gemeinschaft wirkt wie ein Kokon, abgeschottet gegen das, was da draußen noch in einigen Köpfen arbeitet.

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Spitzel und Spitzensportler

Am Abend wartet harte Kost auf uns: Das Panel „Sport als Propaganda, Sport als Engagement“ rollt die Stasigeschichte des SC Neubrandenburg auf. Schon bei der Vorbereitung in den Tagen vor der Tour merken wir: Mit dem Thema treffen wir einen wunden Punkt. Zu DDR-Zeiten brachte der renommierte Sportclub eine Reihe Vorzeigesportler hervor, darunter Leichtathleten, Triathleten und Kanufahrer. Allerdings war die Führungsriege die meiste Zeit damit beschäftigt, die Talente von der Republikflucht abzuhalten und auf Linientreue zu eichen, und nicht selten wurden Spitzensportler und Studenten der Sporthochschule zu IMs, inoffiziellen Mitarbeitern der Stasi.

Mit auf dem Panel sitzt André Keil, dessen Dokumentarfilm „Als aus Sportlern Spitzel wurden“ Licht in das dunkle Kapitel des Sportvereins bringt – ein paar Tage vor unserem Tourstopp zeigt das NDR ihn zum zweiten Mal im Fernsehen. Geschichte aufrollen? Das passt nicht jedem ehemaligen DDR-Bürger, auch aus dem Publikum kommen mürrische Stimmen. Doch Aufarbeitung muss sein, findet auch Regisseur André Keil: „Noch schieben vor allem Journalisten die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit an, da muss noch viel passieren. Gerade ihr, die dritte Generation, werdet künftig noch mit der Aufarbeitung beschäftigt sein.“

Das Thema ist so heiß, dass die Zukunft und „Sport als Engagement“ ein wenig zu kurz kommen. Doch Lennart Claussen hat Gelegenheit, das Projekt „Mobile Beratung im Sport” des Landessportbundes Mecklenburg vorzustellen. Er berät Sportvereine in Mecklenburg-Vorpommern unter anderem dazu, wie sie gegen Rechtsextremismus in eigenen Reihen vorgehen können.

Vier wunderschöne historische Tore säumen übrigens den Stadtkern, dessen sozialistische Architektur ordentlich Eindruck bei uns hinterlassen hat. Am Abend spielen Deutschland und Israel im Freundschaftsspiel auf zwei. Im urigen „Konsulat“ flackert das Spiel über die Leinwand, wir stärken uns mit deftiger Küche und kühlem Bier, und reden noch lange darüber, wie man Vergangenes aufarbeiten und für die Zukunft nutzen kann. Denn ähnlich wie im Fußball gilt auch für die Gesellschaft: Chancen verwandeln!

Artikel von Ulrike Nimz in der Freien Presse

Illustration: Alexander Fromm, Text & Foto: Sabine Weier