Vater: ChileMutter: Chile
Interview mit RR
Wie sind Sie in die DDR gekommen?
Nachdem ich die ersten sechs Jahre in Chile verbracht habe, mussten meine Eltern, mein Bruder und ich aufgrund des Putsches 1973 das Land verlassen. Damals wurde der demokratisch gewählte Präsident Salvador Allende durch das Militär gewaltsam des Amtes enthoben. Mein Vater ist Kiefernchirurg, hat aber auch politisch engagierte Musik gemacht. Das war der Grund, weshalb wir fliehen mussten. Wir sind erst nach Argentinien, weil alle dachten, dass der Putsch in Chile nicht lange dauern würde – so eine Art Unfall der Geschichte. Hat aber doch länger gedauert. Im Februar 1974 kamen wir dann über Umwege in die DDR.
Sie waren also Flüchtlinge? Wie ging es Ihnen?
Viele Chilenen, die ihr Land verlassen mussten, zählten zur Intelligenz. Als sie in der DDR ankamen, wurde alles gut organisiert. Aber zum einen mussten – bis auf die Ärzte und Krankenschwestern – alle im Schraubenwerk arbeiten. Zum anderen gab es am Anfang Reisebeschränkungen, also Chilenen bekamen nur ein Visum mit Genehmigung vom Arbeitgeber und den DDR-Behörden. Darum sind einige Chilenen dann von der DDR nach Schweden ins Exil gegangen. Sie wurden aber dort nicht mehr als chilenische Asylanten aufgenommen, sondern als Asylanten aus der DDR.
Und wie kamen Sie in der DDR zurecht?
Nach unserer Ankunft haben wir kurz in einem Heim gewohnt. Unsere Familie bekam dann in Karl-Marx-Stadt eine Neubauwohnung: warmes Wasser, Zentralheizung, komplett eingerichtet mit Tellern, Tassen, alles was dazugehört. Und auf unseren Betten war jeweils passend zu unserem Alter ein Kuscheltier. Das war schon beeindruckend. Es gab sogar einen Kredit. Die DDR ging mit den chilenischen Genossen sehr solidarisch um.
Sie lebten also unter den DDR-Bürgern?
Ja, ganz anders als etwa die Vertragsarbeiterheimen in den Heimen. Wir waren im Prinzip mitten im gesellschaftlichen Alltag: Wir waren normal arbeiten. Wir sind normal in die Schule gegangen. Wir haben in ganz normal in Wohnungen gewohnt.
Und dort war alles problemlos?
Na, wir wohnten alle in einem Block mit elf Etagen, also alle Chilenen in einem Hausaufgang. Und das hat am Anfang die Begegnung mit DDR-Bürgern nicht unbedingt gefördert. Aber wir hatten eine politische Message, die wir natürlich in die Welt und zu den Leuten tragen wollten. Wir wollten Kontakt. Doch eines Tages stand in großen Lettern an unserer Hauswand: Chilenen raus! Und wir dachten: Ja okay, die meinen Pinochet. Erst später wurde uns erklärt, dass diese Wohnungen alle im Vorfeld vergeben waren. Die Leute haben jahrelang auf ihre Wohnung gewartet und dann wurde entschieden, die chilenischen Genossen ziehen hier ein. Das führte natürlich zu Spannungen unter den Leuten. Ist ja logisch. Immerhin, diese anfänglichen Versuche staatlicherseits, uns in Watte zu hüllen, wurden bald aufgegeben.
Würden Sie sagen, die Integration hat dann gut geklappt?
Ja, definitiv. Das hatte sicher damit zu tun, dass die politische Grundüberzeugung der Chilenen, jener der der DDR entsprach. Lange Zeit sind die chilenischen Organisationen davon ausgegangen, dass nach der Pinochet-Diktatur wieder eine Demokratie mögliche ist.
Waren Sie der DDR dankbar für das Exil?
Ja. Also auch im Nachhinein bin ich immer noch dankbar dafür das, was wir erlebt haben. Was die größte Anerkennung aus meiner Sicht ist: Dass damals die Regierung der DDR mit der Chile Antifascista – also den Repräsentanten der Chilenen in der DDR – vereinbart hat, dass alle chilenischen Lehrer ins Bildungssystem der DDR integriert wurden. Und alle chilenischen Kinder lernten auch spanische Geografie, Geschichte und Sprache, das waren Pflichtfächer für uns – sonst hätten wir keine Schulabschlüsse bekommen. Und das hat dazu geführt, dass wir die Sprache weder in Schrift und Wort verloren haben.
Würden Sie sich als ostdeutsch bezeichnen?
Ich fühle mich nicht Deutsch. Ich habe immer noch einen chilenischen Pass. Ich bin natürlich Ostdeutsch geprägt –einhundertprozentig über die Jahre – und die DDR, heute Deutschland, ist meine Heimat, aber ich bin kein Deutscher. Meine Familie lebt hier, meine Frau ist hier, meine Kinder sind hier. Ich bezahle hier meine Steuern, habe hier die Verantwortung für meine Firma und Mitarbeiter. Aber trotzdem bin ich Chilene. Ich habe mich mal im Bezirksamt erkundigt, was zu tun ist, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen: Doch ich habe es nicht über das Herz gebracht, auf die chilenische Staatsbürgerschaft verzichten. So bin ich heute ein ostdeutsch sozialisierter Chilene.
Gab es in der DDR Entwertungserfahrungen?
Ja am Anfang. Als ich in die zweite Klasse kam, wir waren da mehrere Chilenen, da gab es schon massive Auseinandersetzungen mit den Mitschülern. Die „N—-r“ zu uns gesagt haben. Wir haben erst gar nicht verstanden, dass es eine Beleidigung sein sollte. Aber mit der Zeit schon. Dann haben wir das auch als Beleidigung angenommen und uns richtig geprügelt. Das war schon sportlich, was da passiert ist. Bis die Lehrer eingegriffen haben.
Gab es auch in Karl-Marx-Stadt Orte, die sie später als Jugendliche gemieden haben?
Es gab dort logischerweise auch Orte, wo es Auseinandersetzungen gab. Auch die kubanischen und vietnamesischen Vertragsarbeiter, die lybischen Studenten oder Auszubildenden wussten, wenn man da oder da hingeht, muss man aufpassen, weil es da schon mal krachen kann. Ich hab für mich entschieden: Muss ich da jetzt unbedingt hin?
Wie war das dann in Berlin?
Nach dem Abitur habe ich an der Humboldt-Uni Kultur und Theaterwissenschaften studiert. Da war eine gute Atmosphäre: mit den Kommilitonen, mit denen ich studiert habe; mit den ausländischen Studenten, die da gewohnt haben. In Berlin bin ich ab und zu ins Operncafè gegangen oder in die Kantine vom Berliner Ensemble oder in den Künstlerklub Möwe – als irgendwo in eine Diskothek in Marzahn.
Gab es Situationen, in denen Sie sich gegenüber anderen benachteiligt gefühlt haben?
Ja, es ist so eine Missachtung des anderen: Ältere Damen, die uns in die Haare gefasst haben. Andere, die auf einen zugehen und in gebrochener Muttersprache ansprechen. Diskriminierung fängt in dem Moment an, wo man offensichtlich das Gefühl hat, aufgrund seiner Herkunft, seines Aussehens nicht wie andere akzeptiert zu werden. Wenn da Anstand und Respekt verloren gehen, empfinde ich das schon als Rassismus.
Gibt es diese Situationen heute auch noch so?
Und ob! Zum Beispiel die zentrale Ausländerbehörde in Berlin. Alle vier Jahre läuft der chilenische Pass ab und der Aufenthaltstitel muss in den neuen Pass übertragen werden. Wenn du dahingehst, spürst du schon beim Pförtner den Rassismus. Also das ist der Hammer! Auf eine normale Frage bekommst du nie eine normale Antwort. Meine deutsche Sprache ist für die ja nicht erkennbar, ich bin Ausländer. Und das reicht für eine gewisse Grundaggression, die sich oft erst ändert, wenn eine Kommunikation stattfindet. Ich habe, egal ob in Karl-Marx-Stadt oder in Berlin, Auseinandersetzungen gehabt, die ausländerfeindlich waren –die sich aber schnell auflösten, wenn ich eine klare, akzentfreie Antwort geben konnte. Das ist nicht in Ordnung. Und als meine deutsche Frau und ich uns 2009 entschlossen haben, zu heiraten –hat die Frau vom Standesamt mir tatsächlich unterstellt, das wäre eine Scheinehe. Das muss man sich mal überlegen: Ich lebe seit 1974 in diesem Land. Das ist Rassismus, nichts anderes.
Bedeutete der Systemwechsel für Sie eine neue erworbene Freiheit oder neue Zwänge?
Als ich in den Achtzigern in Berlin studiert habe, hatte ich ein Dauervisum und konnte jederzeit überallhin. Also in die S-Bahn steigen, Bahnhof Friedrichsstraße das Gleis wechseln und nach Westberlin fahren. Wir hatten keine Reisebeschränkungen mehr, wie die DDR-Bürger. Aber die Sorge, im neuen System seine Existenz sichern zu können, die hatte ich nach 1989 auch. Ich weiß nicht, ob ich als Chilene den Wechsel als friedliche Revolution bezeichnen würde. Revolution ist für mich was anderes. Aber ein Glücksfall der Geschichte war es.
Hat sich der Rassismus in Ostdeutschland nach 1989 eigentlich geändert?
Also Rassismus ist Rassismus. Jedoch ist Rassismus nach 1989 offensiver geworden. Weil da Verunsicherung und soziale Ängste kamen und sich viele als Wendeverlierer sahen. Aus Ausländern wurden Feindprojektionen gemacht. Demgegenüber war eine Ohnmacht des Staates zu spüren. Eine explosive Mischung. Ich glaube aber, dass man nach ‘89 mehr Möglichkeiten hatte, sich zu wehren. Wobei ich wahrscheinlich nicht repräsentativ bin, denn ich lebe im Kokon: Ich steige morgens in mein Auto, fahre in meine Firma und kenne mein Umfeld.
Wie empfinden Sie die Rassismus-Debatten in Deutschland?
Die Geschichte wird immer von Siegern geschrieben. Aus meiner Sicht gab es anfangs in Ostdeutschland gute Initiativen, wie das Aktionsbündnis Tolerantes Brandenburg; wo die Landesregierung massive Probleme mit Rassismus anpackte – mit Debatten und konkreten Maßnahmen. Irgendwann hat sie sich das aber aus der Hand nehmen lassen. Dann wurde das nicht weiter mit der Vehemenz verfolgt, wie es hätte verfolgt werden müssen. Und bald wurde das Thema vom Westen dominiert und die Debatte Westdeutsch geführt, vor allem in ihrer Deutungshoheit. Da schlägt so eine Siegermentalität durch. Dennoch ist die Medienlandschaft hier in der Bundesrepublik, gerade durch die Öffentlich-Rechtlichen, noch gesund. Da können Themen bewusst gemacht und debattiert werden, wie es möglicherweise in anderen Ländern gar nicht mehr geht; etwa in Ungarn und Polen. Deshalb dürfen wir nicht vergessen, dass wir in einem tollen Land leben. Also auch die Deutschen nicht.