Initiative Zivilcourage Hoyerswerda
Interview mit Pfarrer Jörg Michel
Nach den Übergriffen im September 1991 haben die Neonazis Hoyerswerda als erste „ausländerfreie“ Stadt bezeichnet – und dieser Terminus war 1991 auch das erste „Unwort des Jahres“. Was hat das mit den Menschen in Hoyerswerda gemacht?
Das war eine Propaganda-Formulierung der Rechten. Hoyerswerda war niemals „ausländerfrei“. Aber die Übergriffe im September 1991 wurde von einigen Neonazis wie ein Sieg gefeiert – nach dem Motto: Wir wollen eines Tages ganz Deutschland „befreien“. 2006 sollte dann „15 Jahre ausländerfreies Hoyerswerda“ gefeiert werden. Doch dieses Déjà-vu, dass wieder Rechte durch Hoyerswerda marschieren, löste etwas aus: Wir müssen uns auch als Zivilgemeinschaft auf die Hinterbeine stellen. Und so kam es zur Gründung der Zivilcourage Hoyerswerda. Seitdem treffen wir uns jeden Monat, um bei politischen Themen den Anfängen zu wehren.
Die Übergriffe 1991 wurden auch als Pogrom bezeichnet? Was meinen Sie zu dieser Wortwahl?
Ich kenne Pogrome von der Judenverfolgung und aus der Kirchengeschichte – da ging es um Mord und Totschlag. Und ich könnte sagen: In Hoyerswerda ist keiner zu Tode gekommen bei diesen Übergriffen, auch noch nicht in Rostock. Jedoch in Solingen und Mölln gab es Tote. – Doch das klingt wie ein Verteidigungsversuch, dass es in Hoyerswerda nicht ganz so schlimm war. Schlimm war es natürlich trotzdem. Aber ich persönlich bin vorsichtig bei der Wahl von so einem sehr geprägten Begriff und würde das Wort Pogrom selbst nicht wählen, weil es andere Pogrome relativiert. So wie jetzt rechte Gruppen vom „Bombenholocaust“ über Dresden sprechen und versuchen, damit den Holocaust an den Juden zu relativieren … Für Hoyerswerda ist Pogrom ein sehr starkes Wort.
Hoyerswerda wird noch immer mit den Übergriffen von 1991 verschlagwortet. Wie ist heute die Realität?
Lange hat die Stadt unter diesem schlechten medialen Ruf gelitten. Die Strategie war anfangs, Vorwürfe abzuwehren und in eine Verteidigungshaltung zu gehen. Doch in den letzten Jahren wird offener kommuniziert. Die Stadt, die ganze Bevölkerung hat einen Prozess hinter sich, dass man nun zu den Dingen steht. Dadurch kann man auch besser damit umgehen. Zwar wird medial nicht so viel über die aktuelle Flüchtlingshilfe berichtet. Aber es gibt Zivilcourage vor Ort. Anfangs war es viel direkte Hilfe: Anziehsachen, Integrationshilfe, Kindergarten, Schule – jetzt ist es eher Hilfe für Rechtsbeistand, bei Widersprüchen, bei der Arbeitssuche oder einfach als Ansprechpartner da sein. Inzwischen gibt es viel Selbsthilfe bei den Flüchtlingsgruppen. Doch ausgerechnet gesetzliche Rahmenbedingungen stehen dem oft dagegen.
Woran hapert es?
Der Landkreis Bautzen ist bekannt, dass der Daumen bei Integrationsmaßnahmen eher nach unten geht. Erstmal wird gekürzt. Sozialunterstützung – Hilfen für Schulessen und ähnliches -wurde den Flüchtlingskindern gekürzt. Erst wenn jemand klagt und das Gericht das Unrecht feststellt, wird korrigiert. Das ist also sehr mühsam mit den Verantwortlichen des Landkreises im Ausländeramt.
Wo beginnt für Sie Rassismus?
Offenbar versteht jeder etwas anderes darunter: Aber Rassismus fängt da an, wo sich der eine über den anderen erhebt. Ich erlebte einen Konflikt im kirchlichen Bereich: Ein Religionslehrer, der es eigentlich besser wissen muss, wollte bestimmte AfD-Thesen kultivieren – etwa, dass die Muslime durch hohe Geburtenrate das Abendland erobern wollen. Das war für ihn nicht bloß eine These, sondern Realität. Ich habe ihn angezeigt bei den Zuständigen meiner Kirche. Die konnten damit aber schlecht umgehen. Ich merke, dass man dort keinen Sensor hat, wenn sich jemand auf Kosten von Minderheiten profiliert und sie herabwürdigt. Da beginnt für mich der Rassismus. Für andere ist das Meinungsfreiheit. Aber in meiner Stadt mit 500 / 600 Muslimen bin ich hochsensibel und nehme es nicht hin, wenn jemand so unbedarft vor sich hinplappert, der für andere eine Orientierung ist – als Religionslehrer und als Prediger von der Kanzel.
Wird die „freie Meinungsäußerung“ missbraucht?
Ich denke schon – als Ventil gegen das allgemeine Unwohlsein. Die Menschen aus dem Osten haben nach der Wiedervereinigung eine eigene Leidensgeschichte: der Integrationsdruck in westliche Strukturen. Und sie beklagen nach 30 Jahren zurecht, dass sie zu wenig vorkommen in diesem gemeinsamen Deutschland: Sie sind unterrepräsentiert in den Ministerien oder in leitenden Positionen, im Universitätswesen usw. Und dann ist das „Mal-meine-Meinung-sagen“ wie ein Ventil.
Ist dieser Druck typisch ostdeutsch?
Aggressionen sind grundsätzlich im Menschen vorhanden. Ansonsten sind Pauschalisierungen immer schwierig. Aber es wäre interessant zu sehen, wie verschieden eine Gesellschaft mit diesen Aggressionen umgeht. Wie wird es in meiner Umgebung kommuniziert oder das Thema reflektiert? Hier gibt es eine große Unsicherheit, was die Zukunft betrifft, aber auch einen großen Unwillen, sich auf Unbekanntes einzulassen. Wie sich die Lausitz strukturell verändern wird, wissen viele natürlich nicht – ich auch nicht. Das verunsichert. Und schnell werden Ängste und Unwohlsein projiziert. Ein Sündenbock wird gesucht. Die Lausitz ist ein Hotspot für die Wolfspopulation. Da heißt es: „Die haben hier nichts zu suchen. Die sollen zurück nach Polen, wo sie hergekommen sind.“ Absurd: Es geht den Migranten wie den Wölfen, die in gewissem Sinne ja auch Einwanderer sind.
Und das befeuert die Haltung, „früher“ war alles besser?
Ja, wobei „Früher“ heißt: Das ist bekanntes Terrain. „Früher“ meint: Die Kindheit und die Zeit, wo ich keine Verantwortung hatte. Vielleicht könnte man sagen: Die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, ist im Osten nicht so ausgeprägt, unter anderem weil Eigeninitiative ausgebremst wurde. „Früher“ bedeutet außerdem: Es gibt die Sehnsucht nach Autoritäten, die für die Leute das Denken und Handeln übernehmen – und die man haftbar machen kann, wenn etwas schief geht. Vielleicht wird das schon sozial antrainiert. Ich erlebe das auch im kirchlichen Bereich: Herr Pfarrer, machen Sie mal!
Gibt es beim Thema Rassismus im Osten einen Unterschied zu Westdeutschland?
Ich vermute, dass die Aggressivität, mit der sich hier die AfD oder Pegida äußern, vielleicht im Westen nicht so groß ist. Da geht‘s ein bisschen moderater oder bürgerlicher zu. Grundsätzlich ist Blödheit aber überall gut verteilt. Neid oder Ängste, dass der Lebensstandard sinkt, gibt es in Ost wie West.
Wie wurde mit Rassismus in der DDR umgegangen?
Rassismus sollte in der DDR kein Thema sein. Ich erlebe, dass die, die die DDR als gute Idee und humanere Praxis verteidigten, jetzt erschrocken sind, dass es Rassismus in der DDR doch gab. Das war ideologisch nicht vorgesehen. Gegen rechte Gruppierungen gab es immerhin Verfolgungsdruck. Und es war sicher schwieriger im Osten, Aggressionen auszuleben, weil der Staat eine größere Kontrolle hatte. Die DDR war nicht rassistisch und doch es gab Rassismus. Er wurde dann heruntergespielt als Jugendspinnerei o.ä. Diese Verdrängung ersparte natürlich das tiefere Nachdenken und die Selbstreflektion. Völkerfrieden, Völkerfreundschaft, Völkerverständigung – dieses Trallala war die Fassade, hinter der es bröckelte. Der Osten deklarierte sich als antifaschistisch – und hat trotzdem manche Nazis integriert. Es gab keine 68er Emanzipationsbewegung, sozusagen eine gesellschaftliche Reinigung. Vielleicht müssen wir das nachholen. Jedenfalls ist vieles verschleppt worden.
Viele denken, sie seien keine Rassisten – und reden doch abwertend. Kennen Sie das?
Ja, einige denken, sie äußern nur eine Meinung, sie hätten nur mal was Kritisches angemerkt. „Das wird man ja noch mal aussprechen dürfen!“ Aber dass es für eine Minderheit diskreditierend ist, wollen sie nicht reflektieren. Die von Rassismus Betroffenen gewöhnen sich nicht daran – sie leiden unter alltäglichen Kränkungen.
Welche Rolle spielen in dieser Rassismus-Debatte die ostdeutschen Intellektuellen?
Nach der Wende gab es dynamische Intellektuelle, die noch prägend präsent waren: Regine Hildebrandt in Brandenburg oder Heinz Eggert in Sachsen. Das waren Originale. Unabhängige, selbstständige Denker, die nicht in einer Parteihierarchie eingeebnet werden konnten. Aber diese Köpfe sind jetzt weg. Nach 30 Jahren hat sich die Parteiendemokratie verfestigt. Und die Intellektuellen haben wenig Chance, durchzudringen. Die Revolution frisst ihre Kinder …
Und welche Rolle spielen die Medien?
Da gibt es Printmedien, die auf Emotionen und Enttäuschung abzielen, auch auf Neid – das ist schon mal nicht förderlich. Oder diese Fernseh-Trash-Formate: Da bricht jede Vorbildfunktion in sich zusammen. Oder die sozialen Medien: Da sinkt mit der Anonymität die letzte Hemmschwelle. Da muss sich der Rahmen – den der Gesetzgeber vorgibt – ändern und die Kultur – also wie die Menschen persönlich damit umgehen.
Was halten Sie denn von politischer Korrektheit in der Sprache?
Ich bin selbst beruflich mit dem Wort unterwegs. In den Predigten ist mir der Respekt immer wichtig: So rede ich niemals von Asylanten, sondern von Asylbewerbern und Flüchtlingen; benutze nicht das Z-Wort, sondern spreche von Sinti und Roma. Sprache befördert Rassismus. Sie ist kein unschuldiger Freiraum. Es muss klar sein: Wo ist die rote Linie? Was läuft unter Meinungsfreiheit? Was ist eine rassistische Äußerung?
Was andere verletzt, ist rassistisch.