Aufarbeitung in Bautzen

4. Juni 2012 | 07:25 Uhr

 

Wendekind Sven Riesel, Jahrgang 1980, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gedenkstätte Bautzen die berüchtigte Geschichte des Stasigefängnisses in der sächsischen Stadt auf. Sowohl im Stasiknast als auch im zweiten Bautzener Gefängnis, dem „Gelben Elend“, saßen unzählige politische Gefangene ein. Wir sprachen mit Sven über seine Arbeit, über seine Wahlheimat Dresden und über „Ossis“ und „Wessis“.

Bist Du Bautzener?

Nein, ich komme aus Pulsnitz in der Westlausitz. Studiert habe ich in Dresden, Technik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Germanistik. Da wohne ich auch seit über zwölf Jahren, jetzt pendle ich nach Bautzen. In der Gedenkstätte habe ich schon während des Studiums gearbeitet, Führungen und Schülerprojekte durchgeführt und Rechercheaufgaben übernommen. Nach dem Studium habe ich für kurze Zeit noch mal in einem anderen Museum gearbeitet, aber dann hat es mich wieder zurück zur Gedenkstätte Bautzen gezogen. Mich hatte das Thema nicht losgelassen – ich finde das einfach spannend und auch wichtig, die Geschichte der politischen Gefangenschaft im 20. Jahrhundert aufzuarbeiten.

Du führst uns durch die Gedenkstätte, was erwartet uns?

Das Gefängnis, das als Stasiknast traurige Berühmtheit erlangt hat, liegt mitten in einem Villenviertel, in dem man so einen Knast gar nicht vermutet. Anhand von einzelnen Geschichten und Lebensläufen werde ich Wege nach Bautzen und die Methoden der Stasi veranschaulichen. Schon ab 1933 waren in Bautzen die ersten Unschuldigen eingesperrt, nach dem Krieg nutzten die sowjetischen Besatzer die Haftanstalten und auch in der DDR waren dann politische Gefangene inhaftiert. Die Bezeichnung „Gelbes Elend“ für das zweite Gefängnis in der Stadt ist vor allem in der älteren Generation bekannt, das liegt an den gelben Ziegelsteinen, aus denen das Gebäude erbaut wurde, „Elend“ natürlich wegen den schlechten Haftbedingungen. Heute ist es als JVA Bautzen immer noch in Betrieb.


Für Dich ist die Stasigeschichte schon allein wegen Deiner Arbeit sehr präsent. Aber wie ist das denn ansonsten im Alltag der Menschen?

Es gibt ein ganz deutliches Gefälle in der Wahrnehmung dieses Themas. Die ältere Generation hat natürlich ganz konkrete Erinnerungen daran. Bei der dritten Generation ist das ja schon anders. Wenn ich an die DDR denke, dann vor allem an samstags Schule und den Geruch im Intershop. Oder an die Zeit, in der die Mauer fiel – was das für eine Unruhe war und wie alle gar nicht wussten, was da gerade passiert und wie es jetzt weitergeht. Ich selbst habe einen sehr geschichts- und kulturinteressierten Freundeskreis, da ist die Stasivergangenheit immer mal wieder Thema, aber im Großen und Ganzen könnte das mehr werden. Die ältere Generation hat großes Interesse an der Gedenkstätte, weil sie zum Beispiel jemanden kennen, der da mal einsaß. Den Jüngeren muss man oft erst klar machen, was für eine Bedeutung eigentlich dahinter steckt.

Du hast Dich für Dresden als Wohnort entschieden, wie lebt es sich dort?

Die Stadt ist einfach unschlagbar, gerade für unsere Generation. Das Kulturleben gibt jede Menge her. Im Gegensatz zu vielen anderen ostdeutschen Städten ziehen hier viele aus unserer Altersgruppe her, es gibt junge Familien, auch Engagement und Initiativen. Wird zum Beispiel eine Kita geschlossen, nehmen die Leute das nicht einfach hin, sondern wehren sich mit einer Elterinitiative.

Hast Du das Gefühl, dass es Deine Persönlichkeit beeinflusst hat, in zwei Systemen aufgewachsen zu sein?

Sich selbst einschätzen, ist ja immer schwierig. Aber ich würde schon sagen, dass das prägend war. Für mich ist es schon allein für die Arbeit wichtig, die DDR noch gekannt und darin gelebt zu haben. Dadurch habe ich zum Beispiel einen einfacheren Zugang zur zweiten Generation, was ja auch für meine Arbeit wichtig ist. In zwei deutschen Staaten aufgewachsen zu sein, war jedenfalls kein Nachteil für mich. Aber ich muss ehrlich sagen: Mir geht das Ost-West-Gerede manchmal schon auf die Nerven. Schließlich verfolgen wir einen europäischen Gedanken – ob „Ossi“ oder „Wessi“.

Illustration: Alexander Fromm, Interview: Sabine Weier


Schwerin im Sturm erobert

3. Juni 2012 | 11:03 Uhr

 

Mit Rostocker und Lübzer Pils, Würstchen vom Biohof Medewege auf dem Grill und Eroberungslaune stimmen wir uns am ersten Abend in Schwerin auf die dritte Generation in der Landeshauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns ein. Und die begeistert restlos, selbst Adriana Lettrari. Die gebürtige Rostockerin erzählt uns von der Fehde zwischen ihrer Heimatstadt an der Küste und Schwerin, und davon, wie sie sich in den sechs Monaten, in denen sie hier arbeitete und lebte, dann doch überzeugen ließ: Schwerin verdient den Hauptstadtstatus.

Bei einem spontanen Nachtspaziergang durch die Pflastersteingassen entdecken wir im Licht der Straßenlaternen wunderschöne historische Fassaden, das malerische Seeufer mit Segelboten und das beeindruckende Schloss, Sitz der Landesregierung. Einige erinnert es an „Dis-nee“. Und als wir die Türen des Doms öffnen und in dem imposanten Bau ein fast 100 Köpfe starker Chor Bach singt, sind wir hin und weg.

Guter Dinge entern wir am nächsten Morgen das Ministerium für Gleichstellung, Arbeit und Soziales. Manuela Schwesig thront dort und hat uns zu einem Hintergrundgespräch eingeladen. Als wir die Ziele der 3ten Generation Ost vorstellen wird klar: Mit Manuela Schwesig, Jahrgang 1974, haben wir eine Mitstreiterin im Boot. Sie erzählt uns von ihren Erfahrungen als Wendekind, davon, wie sie die Umbrüche erlebt hat, auf sich gestellt, ohne Unterstützung durch Eltern, die ja selbst erstmal mit einem neuen System klarkommen mussten. Beim gemeinsamen Brunch mit der dritten Generation Schweriner sagt sie noch mal: „Die Erfahrungen dieser Generation sind wertvoll, wir müssen jetzt etwas daraus machen!“

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Hier ist was los!

Wir tauschen uns mit vielen jungen Menschen aus und hören: In Schwerin ist richtig was los, zum Beispiel im Club Zenit oder im Achteck, einige von uns probieren noch am Abend den berüchtigten Freischütz aus, eine Traditionskneipe am Ziegenmarkt. Demnächst soll auch ein selbstorganisiertes Festival mit elektronischer Musik starten. Hört sich doch gut an, oder? Viele aus der dritten Generation verlassen die Stadt trotzdem, und auch hier liegt das vor allem an den fehlenden Job-Perspektiven, einzig die Call-Center-Branche boomt scheinbar in ganz Ostdeutschland – auch in Schwerin hören wir davon.

In verschiedenen Workshops am Nachmittag entwickeln wir Ideen für die Zukunft, planen Netzwerkgruppen der 3ten Generation Ost in Mecklenburg-Vorpommern, sprechen über die Aufbruchstimmung in der Gegenwart und mit Martin Klähn über die nach dem Mauerfall. Er gründete damals das Neue Forum mit, hatte sich schon in den intensiven Monaten zuvor in der Bürgerrechtsbewegung engagiert, und erzählt uns von seiner ersten Reaktion: „Scheiße, die Mauer ist weg!“ und von enttäuschten Hoffnungen. Und so kommt die Frage auf: Was sind unsere Visionen? Ideen haben wir, vor allem kommt es jetzt aber darauf an, Stimmen und Gefühle einzufangen. Auf der Bustour und auch sonst, raus damit!

Schwerin und Manuela Schwesig haben wir im Sturm erobert. Wir lassen Mecklenburg-Vorpommern hinter uns und sind wieder on the Road. Auf nach Zossen Genossen!

Fotos und Text: Sabine Weier


Kontroverser Spielverlauf zwischen den vier Toren Neubrandenburgs

1. Juni 2012 | 19:26 Uhr

 

Der Teamgeist kommt immer mehr in Fahrt, die Mannschaft hat sich eingegroovt und auch die Sonne bricht hier und da mal durch die Wolkendecke, als wir Neubrandenburg ansteuern. Zwischen den Schwedter Plattenbauten und denen in der Stadt im Zentrum der Mecklenburgischen Seenplatte liegen – malerisch, aber wahr – saftig grüne Wiesen, von Kornfeldern, strahlend-gelbem Raps und tiefrotem Klatschmohn durchsetzt. Aaaaahhhs und Ooooohhhs klingen durch den Bus und immer wieder raunt ein Staunen durch die Reihen, wenn Filmemacher Gunther Scholz und Kameramann Florian Lampersberger mal wieder mit dem Auto an uns vorbeigerauscht sind und sich an einer Landstraßenkurve postiert haben, um unseren schicken Bus im Vorbeifahren zu filmen.

Wir checken etwas außerhalb im Sportinternat ein und ziehen neugierige Blicke auf uns, als wir ins belebte Stadtzentrum fahren. Unser Positionsspiel auf den Marktplatz wird zunehmend besser, doch auch in Neubrandenburg ist es nicht einfach, mit der dritten Generation ins Gespräch zu kommen. Selbst die Neugierigen machen dann doch lieber einen Bogen um uns. Ein paar Stimmen können wir trotzdem einfangen, und auch von den Herausforderungen erfahren, mit denen Neubrandenburg kämpft: Wenige Jobs und mageres Freizeitprogramm für junge Menschen, ganze Straßenzüge mit über 80 Prozent Hartz-IV-Empfängern, Gettoisierung. Doch auch von Lichtblicken, wie einer wachsenden alternativen Szene, erzählen uns die Passanten.

Ganz andere Eindrücke bringen einige von den Schulworkshops mit. „Eva“, die evangelische Schule St. Marien, wurde von einer Elterninitiative ins Leben gerufen, einer kleinen bürgerlichen Schicht, zu der vor allem Zugezogene aus den alten Bundesländern zählen. Wende und DDR-Vergangenheit sind für die Schüler dann auch kaum Thema, die Gemeinschaft wirkt wie ein Kokon, abgeschottet gegen das, was da draußen noch in einigen Köpfen arbeitet.

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Spitzel und Spitzensportler

Am Abend wartet harte Kost auf uns: Das Panel „Sport als Propaganda, Sport als Engagement“ rollt die Stasigeschichte des SC Neubrandenburg auf. Schon bei der Vorbereitung in den Tagen vor der Tour merken wir: Mit dem Thema treffen wir einen wunden Punkt. Zu DDR-Zeiten brachte der renommierte Sportclub eine Reihe Vorzeigesportler hervor, darunter Leichtathleten, Triathleten und Kanufahrer. Allerdings war die Führungsriege die meiste Zeit damit beschäftigt, die Talente von der Republikflucht abzuhalten und auf Linientreue zu eichen, und nicht selten wurden Spitzensportler und Studenten der Sporthochschule zu IMs, inoffiziellen Mitarbeitern der Stasi.

Mit auf dem Panel sitzt André Keil, dessen Dokumentarfilm „Als aus Sportlern Spitzel wurden“ Licht in das dunkle Kapitel des Sportvereins bringt – ein paar Tage vor unserem Tourstopp zeigt das NDR ihn zum zweiten Mal im Fernsehen. Geschichte aufrollen? Das passt nicht jedem ehemaligen DDR-Bürger, auch aus dem Publikum kommen mürrische Stimmen. Doch Aufarbeitung muss sein, findet auch Regisseur André Keil: „Noch schieben vor allem Journalisten die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit an, da muss noch viel passieren. Gerade ihr, die dritte Generation, werdet künftig noch mit der Aufarbeitung beschäftigt sein.“

Das Thema ist so heiß, dass die Zukunft und „Sport als Engagement“ ein wenig zu kurz kommen. Doch Lennart Claussen hat Gelegenheit, das Projekt „Mobile Beratung im Sport" des Landessportbundes Mecklenburg vorzustellen. Er berät Sportvereine in Mecklenburg-Vorpommern unter anderem dazu, wie sie gegen Rechtsextremismus in eigenen Reihen vorgehen können.

Vier wunderschöne historische Tore säumen übrigens den Stadtkern, dessen sozialistische Architektur ordentlich Eindruck bei uns hinterlassen hat. Am Abend spielen Deutschland und Israel im Freundschaftsspiel auf zwei. Im urigen „Konsulat“ flackert das Spiel über die Leinwand, wir stärken uns mit deftiger Küche und kühlem Bier, und reden noch lange darüber, wie man Vergangenes aufarbeiten und für die Zukunft nutzen kann. Denn ähnlich wie im Fußball gilt auch für die Gesellschaft: Chancen verwandeln!

Artikel von Ulrike Nimz in der Freien Presse

Illustration: Alexander Fromm, Text & Foto: Sabine Weier


Tourtag 1: Crashtest in Schwedt

31. Mai 2012 | 09:55 Uhr

 

Mit Rotkäppchen-Sekt in den Bechern, Adrenalin im Blut und einem stärkenden Grußwort von Ulrich Mählert, Projekt-Pate von der Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur, im Rücken rollen wir aus Berlin raus und rein in den ersten Tourtag. Gunther Scholz und sein Filmteam sind von Anfang an dabei und genauso gespannt wie wir: Was passiert? Wen treffen wir? Wie bestehen wir den „Chrashtest mit der Wirklichkeit“, von dem Gunther sprach?

Die Stimmung pendelt sich irgendwo zwischen Ferienlagervorfreude und dem Gefühl ein, dass in den kommenden zehn Tagen etwas Großes auf uns wartet. Auch große Herausforderungen, denn schließlich steuern wir nicht nur Gute-Laune-Paradiese an, sondern bewusst Orte, an denen die dritte Generation Ostdeutscher noch viel bewegen kann. Wie in Schwedt, unserem ersten Tourstopp.

Wir fahren vorbei an den Uckermärkischen Bühnen, einem sozialistischen Prachtbau mit kupferfarben glänzender Glasfassade, der an den abgerissenen Palast der Republik in Ostberlin erinnert. Am Abend werden wir dahinter mit zehn Protagonisten aus Politik, Wirtschaft und Kultur diskutieren, wie man junge Menschen wieder für Schwedt begeistern kann. „Teil der Lösung!“ haben wir den Abend übertitelt, wir wollen konstruktiv nach vorne schauen. Unter den Diskutanten sitzt auch Dimitri Hegemann. Er hat den Berliner Techno-Club Tresor gegründet und arbeitet gerade im Auftrag der Stadt daran, Schwedt „cooler“ zu machen.

Teenager und Plattenbauromantik

Einen guten Club könnte Schwedt brauchen, bestätigen uns auch die Teenager, die wir mittags auf dem „Platz der Befreiung“ zwischen Plattenbauten und Supermärkten treffen. Sie alle werden nach der Schule wohl weggehen, sagen sie, vor allem, weil der Arbeitsmarkt kaum Perspektiven bietet. Auch in den Schulworkshops im Gauß-Gymnasium kommt dieses Thema auf. Es muss etwas passieren!

Unter dem grauen, wolkenverhangenen Himmel wirken unsere bunten Sonnenschirme und Liegestühle ein wenig verloren, ziehen aber jede Menge Blicke auf sich. Wir sprechen mit der vierten, zweiten und ersten Generation – von den „Dritten“ laufen uns nur wenige über den Weg, auch später beim geführten Spaziergang durch die Stadt, die nach 1961 um Papierfabrik und Chemiekombinat herum in klassisch sozialistischer Manier angelegt wurde. Von den gigantischen Plattenbauwüsten wurden große Teile nach der Abwanderungswelle in den 1990er Jahren wieder abgerissen.

„Wir müssen polnischer werden!“

Am Abend verdichtet sich das graue Bild: Das Lohnniveau ist niedrig, die Schüler vermissen ihr Schwimmbad, die von Schließung bedrohte Kinderklinik sucht händeringend nach einem Arzt. Bürgermeister Jürgen Polzehl war am Vorabend höchstpersönlich mit einem potenziellen Kandidaten essen. Aber auch Lösungsansätze zeichnen sich ab. Und einige motivierte junge Schwedter sitzen mit an den Diskussionstischen. Sie lieben ihre Heimat und wollen etwas bewegen.

Aber Schwedt muss sich für die dritte und vierte Generation öffnen, Hausverwaltungen dürfen sich bei WG-Gründungen nicht quer stellen, höhere Gehälter und ein breiteres kulturelles Angebot müssen her. Und: Der Austausch mit dem benachbarten Polen ist ausbaufähig, denn hier wartet eine aufgeschlossene dritte Generation auf Perspektiven. „Wir müssen polnischer werden!“ resümiert Intendant der Uckermärkischen Bühnen Reinhard Simon.

Wir nehmen jede Menge Impulse und Kontakte mit, als wir im Dunkeln mit unserem großen silbernen Bus zur alten Tabakfabrik in Vierraden rollen, wo wir den Abend bei Wein und spontanem Biografie-Austausch ausklingen lassen. Das beeindruckende Gelände entpuppt sich als heimliches Highlight des Tages: Von 1990 an stand das historische Gebäudeensemble leer, bis Engagierte im Jahr 1999 den kunstbauwerk e.V. ins Leben riefen. Zwischen roten Backsteinen und alten Holzbalken begegnen sich hier Studierende von Hochschulen aus Polen und Brandenburg und andere Gruppen. Die wichtigste Veranstaltung ist seit über zehn Jahren das deutsch-polnische Kunstsymposium „oder | odra“: Jeden Sommer bespielen Künstler die wunderschönen Räume mit Arbeiten und entwickeln gemeinsame Positionen. Teil der Lösung!

Illustration: Alexander Fromm, Text: Sabine Weier


Demografischer Wandel im Zeitraffer

28. Mai 2012 | 18:23 Uhr

 

Bildungsaktivist Sebastian Hirsch beschäftigt sich damit, wie sich Lernen und Wissen im digitalen Zeitalter verändern, und betreut Projekte wie das „Education Innovation Lab“ an der Humboldt-Viadrina School of Governance. Mit praktischen Ideen kämpft er gegen Ungerechtigkeit im Bildungssystem und für Chancengleichheit – ein gesamtdeutsches Anliegen. Für die Tour 2012 der 3ten Generation Ost hat er in seiner Heimatstadt Schwedt einiges auf die Beine gestellt.

Du hast für den ersten Tourstopp in Schwedt die Diskussion „Teil der Lösung!“ initiiert, was erwartet uns?

Fachkräftemangel und bürgerschaftliches Engagement sind ja auf der gesamten Tour Thema. Schwedt steht in vielerlei Hinsicht exemplarisch für Entwicklungen in Ostdeutschland. Ein ganz heißes Thema ist dort gerade die Schließung der Kinderklinik, eine kleine Katastrophe für Familien. Ein Arzt ist weggegangen, ein anderer krank geworden – Ersatz konnte nicht gefunden werden. Das wird sicher für eine rege Diskussion sorgen. Auch Vertreter von PCK sind dabei, die Erdöl-Raffinerie ist der größte Arbeitgeber in der Region und hat ein Team für die Standortentwicklung eingesetzt. Heute arbeiten noch rund 3.000 Menschen dort, das waren mal sehr viel mehr. Auch meine Eltern haben dort gearbeitet.

In Schwedt passiert viel, scheinbar mehr als in anderen Städten. Für die Initiative „Sag ja zu Schwedt“ wurde ein Berliner Kreativteam engagiert. Sally Below von der Agentur Cultural Affairs und Dimitri Hegemann, der in Berlin den Techno-Club Tresor gegründet hat, sollen die Stadt „cooler“ machen. Das ist schon etwas Besonderes, oder?

Ja, vor allem, weil das Projekt von der Stadt beauftragt ist. Schwedt kann mit seinen Herausforderungen beispielhaft für Städte wie zum Beispiel Hoyerswerda stehen. Viele junge Leute sind weggegangen, der demografische Wandel passiert im Zeitraffer, die Stadt vergreist. Die Hälfte der Belegschaft bei PCK wird in den nächsten 15 Jahren in Rente gehen, da steht der Fachkräftemangel schon vor der Tür. Auch Pflegekräfte werden dann sicher gesucht. Auf der Tour und anderen Veranstaltungen der 3ten Generation Ost wollen wir mit Politikern und den Engagierten der Region ins Gespräch kommen und gemeinsam Lösungsansätze entwickeln.

Aber auch ganz junge Menschen werden am ersten Tourtag schon mitreden, bei einem Schulworkshop.

Ja. An meiner alten Schule, dem Gauß-Gymnasium, gestalten wir einen Schulworkshop mit der „vierten Generation“ bei meiner alten Lehrerin für Politische Bildung. Mit Paula Altland ist auch eine Westdeutsche mit von der Partie. Sie kommt aus Düsseldorf hat in Berlin studiert und ist fürs Referendariat nach Schwedt gekommen. Anfangs war sie skeptisch, aber mittlerweile ist sie gut integriert.

In diesem Programm steckt auch ein Stück Deiner eigenen Biografie. Du bist Jahrgang 1983 und Teil der dritten Generation Ost. Haben Dich Deine Erfahrungen als Wendekind geprägt?

Das möchte ich mal ganz nüchtern beschreiben. Nach der Wende gab es in Schwedt 25 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Als junger Mensch hatte man da ein ziemlich düsteres Zukunftsbild vor Augen. Da war schnell klar: Hier kannst und willst du nicht bleiben. Mal schauen, wo es hingeht. Mein Bruder ist zum Beispiel zum Studium in Berlin gelandet und hat dann einen Job in Freiburg bekommen. Aus meiner früheren Klasse gibt es wirklich nur eine Hand voll Dagebliebener. Ich habe in Bremen studiert, nach einer Weile in Schwedt bin ich jetzt gerade wieder nach Berlin gezogen.

Illustration: Alexander Fromm, Interview: Sabine Weier


Was haben wir eigentlich erlebt?

27. Mai 2012 | 12:38 Uhr

 

Gleich zum Tourauftakt am 30. Mai in Schwedt geht es mit Biografieworkshops zur Sache – eine Erfindung der Sozialpädagogin Juliane Cieslack, Wendekind Jahrgang 1982. Sie wuchs in Seifhennersdorf in der Oberlausitz im Dreiländereck Deutschland, Polen, Tschechien auf, studierte Soziologie, Politikwissenschaften und Slawistik in Potsdam, sattelte dann auf Sozialpädagogik um. In Potsdam lebt und arbeitet sie immer noch.

Was hat Dich zu den Biografieworkshops inspiriert?

Die Idee kam bei der Konferenz der 3ten Generation Ost im letzten Jahr auf, wo es ja auch diese „Murmelgruppen“ zur Vergangenheit gab. Ich habe gemerkt, dass das Interesse an der Aufarbeitung der eigenen Biografie groß ist. Mit dem Thema Ost und West hatte ich mich schon länger und in verschiedenen Formaten beschäftigt. Die Biografieworkshops führe ich zusammen mit Paula Hannaske durch.

Und wie läuft das ab?

In einem Workshop sind meist sechs bis acht Teilnehmer. Es gibt „Zuhöraustausche“ in Zweiergruppen, bei denen es um eine bestimmte Frage geht. Einer erzählt, der andere hört ganz ohne Kommentare zu. Fragen können zum Beispiel sein: „Wie hast du die Wendezeit erlebt?“, „Wie ist es so in Deinem Heimatort?“ oder „Wie war die Schule für dich?“. Danach kann jeder in der Runde von seinen Erfahrungen berichten. Meist entdeckt man viele Gemeinsamkeiten oder erinnert sich an Sachen, an die man schon lange nicht mehr gedacht hat. Ein bisschen erobert man so seine eigene Vergangenheit für sich zurück.

Wahrscheinlich entdecken die Teilnehmer beim Eintauchen in ihre Biografien viele Gemeinsamkeiten ...

Klar. Die Wende war natürlich für alle ein einschneidendes Erlebnis – ob positiv oder negativ. Wir haben alle nichts oder nicht viel von unseren Eltern erklärt bekommen, denn die waren ja erstmal mit sich selbst beschäftigt. Die Schule änderte sich für alle von heute auf morgen, ein ziemliches Chaos. Der Systemwechsel hatte tiefgehende Auswirkungen auf Familien, Gefühle von Angst und Unsicherheit waren für viele Alltag.

Ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie ein dringendes Bedürfnis der dritten Generation Ostdeutscher?

Für viele, aber nicht für alle. Manche graben nicht so gerne in der Vergangenheit herum. Aber es soll ja darum gehen, einen Teil seines eigenen Lebens zu erschließen und zurückzuerobern. Nach der Wende mussten wir uns sofort assimilieren. Jetzt können wir damit beginnen zu fragen: Was haben wir eigentlich erlebt? Wie sind wir aufgewachsen? Welche positiven Erinnerungen haben wir? Welche negativen? Was fühlen wir zu bestimmten Themen? Wie wollen wir jetzt leben? Ich denke, dass die Auseinandersetzung mit der DDR für uns leichter ist, als für die erste oder die zweite Generation. Für unsere Zukunft liegen darin echte Chancen.

Du begleitest die gesamte Tour. Worauf freust Du Dich besonders?

Natürlich auf die Biografieworkshops in Schwedt und Schwerin, darauf, interessierte Leute in ganz Ostdeutschland kennenzulernen, und auf den Austausch mit den anderen.

Illustration: Alexander Fromm, Interview: Sabine Weier


„Ich bin auf den Crashtest mit der Wirklichkeit gespannt!“

25. Mai 2012 | 20:40 Uhr

Filmemacher Gunther Scholz, Vertreter der ersten Generation Ost, hält die Tour 2012 in einem Dokumentarfilm fest. Er hat schon zahlreiche Spiel- und Dokumentarfilme realisiert und Preise wie den Bayrischen Fernsehpreis für „Als die Mauer fiel – 50 Stunden, die die Welt veränderten“ abgeräumt. Mit Filmperlen wie „Sag mir, wo die Schönen sind“, den er 2008 bei der Berlinale vorstellte, ruft er ein Stück DDR-Alltag in Erinnerung.

Sein Team bei der Tour: An der Kamera Florian Lampersberger, Student an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf in Potsdam-Babelsberg, Projektassistentin Nadja Smith hält die zweite Kamera ins Geschehen und führt Interviews, und für guten Ton wechseln sich Velin Marcone und Matthias Kreitschmann ab.

Themen wie Mauerfall, Wendeerfahrung und die Auswirkung auf Biografien ziehen sich quer durch Deine Filmografie. Was fasziniert Dich daran?

Gerade in den letzten fünf Jahren haben mich diese Themen unter dem Motto „unser zweites Leben“ beschäftigt. Natürlich begreife ich die Wende als großen Schnittpunkt, an dem sich das Leben vieler stark verändert hat. Mich interessiert die Erfahrung, in zwei Systemen gelebt zu haben und nicht zuletzt auch Teil eines bewegten Abschnitts der Geschichte zu sein.

Der Dokumentarfilm zur Tour der 3ten Generation Ost wird mit der Unterstützung der Babelsberger Filmhochschule Konrad Wolf realisiert. Was verbindet Dich mit der Hochschule und Babelsberg?

Ich bin selbst Absolvent, 1971 habe ich dort mein Regie-Diplom abgelegt. Schon mit 17, nach einer Lehre als Schriftsetzer, wusste ich, dass ich Filme machen will. 1978 habe ich dann als Regisseur bei der DEFA endlich meinen ersten Langspielfilm gedreht, sechs waren es insgesamt. Wir waren staatlich angestellt, konnten aber nur alle zwei bis drei Jahre einen Film drehen, die DEFA machte pro Jahr nur 17 oder 18 Filme und wir waren 42 Regisseure. Das war mir natürlich zu wenig, also habe ich begonnen, mir zwischendrin Dokumentarfilme zu organisieren. Das hat sich später ausgezahlt – seit 1996 mache ich nur noch Dokumentarfilme.

Hast Du als Filmemacher in der DDR Zensur und Reglementierungen auch inhaltlich zu spüren bekommen?

Wir wollten mitwirken, verbessern und verändern, und haben versucht, auch kritische Sichten auf die Leinwand zu bringen, wenngleich auch in wesentlich bescheidenerem Rahmen als unsere polnischen oder tschechischen Kollegen. Die waren viel radikaler. Wenn man aber einen Film macht und viel Energie reinsteckt, will man natürlich auch, dass er aufgeführt wird. Gleichzeitig bestand diese Abhängigkeit vom Geldgeber, dem Staat. Es gab regelmäßig kontroverse Diskussionen, teilweise um lächerliche Kleinigkeiten. Die Frage „Kriege ich meinen Film durch?“ schwang immer mit und dadurch eine gewisse Selbstzensur, die „Schere im Kopf“, wie es so schön heißt.

Worauf freust Du Dich am meisten bei der Tour?

Ich bin sehr auf den Crashtest mit der ostdeutschen Wirklichkeit gespannt, deswegen interessiert mich das Marktplatz-Format besonders, bei dem die 3te Generation Ost sich an öffentlichen Orten vorstellt und mit Leuten ins Gespräch kommen will. Wird das funktionieren? Was wird passieren? Das gilt genauso für den Film: Man weiß vorher nicht, was tatsächlich passiert und wie der Film am Ende aussehen wird. Aber ich bin sicher, dass viel spannendes Material entsteht und freue mich auf die gemeinsame Zeit mit der Bustour-Truppe.

Illustration: Alexander Fromm, Interview: Sabine Weier


„Mit der DDR verbinden mich meine lebhaftesten Kindheitserinnerungen“

25. Mai 2012 | 13:00 Uhr

Swantje Tobiassen leitet das Projekt „Region in Aktion – Kommunikation im ländlichen Raum‟ der Amadeu Antonio Stiftung. Sie wuchs in einem kleinen Ort an der Nordsee auf, war aber als Kind schon regelmäßig in den Ferien in Ostdeutschland. Am Tour-Stopp Zossen zeigt sie uns mit Skatern die Stadt.

Was für ein Projekt ist „Region in Aktion‟?

Das Projekt will mit Mitteln der darstellenden Kunst herausfinden, wie Menschen in ländlichen Regionen miteinander kommunizieren, die demokratische Kultur vor Ort stärken und zivilgesellschaftliche Initiativen unterstützen. In Zossen kooperieren wir mit der Bürgerinitiative „Zossen zeigt Gesicht‟ und im vorpommerschen Fahrenwalde mit dem Verein Schloss Bröllin. Vor 20 Jahren haben sich dort Künstler niedergelassen und einen Ort für Begegnungen, Theater- und Kunstprojekte geschaffen. Außerdem arbeiten wir mit Schauspielern von „The Working Party‟ aus Berlin zusammen, künstlerischer Leiter und Regisseur ist Benno Plassmann.

Und Ihr bekämpft Rechtsextremismus ...

Vor allem geht es darum, Leute miteinander ins Gespräch zu bringen. Und wir wollen eine Kultur der gegenseitigen Anerkennung schaffen. Das ist ein sehr wichtiger Aspekt im Kampf gegen Rechts. Als wir angefangen haben, in den Regionen zu arbeiten, haben wir Initiativen eingeladen und hatten wahnsinnig viel Zulauf. Wir wollen demokratisches Engagement sichtbar machen. Um das auch medial zu verbreiten, wird es im Nordkurier in Zukunft die Serie „Helden der Region“ geben. Initiativen wie die 3te Generation Ostdeutschland stehen für mich für eine Generation, die sich neugierig und kritisch mit ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinandersetzt und ihre Rolle in der demokratischen Gestaltung der Gesellschaft wahrnimmt. So können Nazis am sinnvollsten bekämpft werden.

Und wie kommt „The Working Party‟ ins Spiel?

Zum Beispiel bei der Aktion „held/in_dorf‟. Benno Plassmann hatte die Idee, den von Neonazis besetzten Begriff „Held‟ wieder neu aufzuladen. Wir befragen Leute zu ihren Helden, um zu erfahren, welche Menschen in ihrer Umgebung Bemerkenswertes leisten. Die Interviews nehmen wir auf und Schauspieler nutzen sie als Vorlage für kurze Theaterszenen. Am 7. und 8. September laden wir Beteiligte und Interessierte zu einer Busfahrt durch die Region ein. Im Bus hören wir eine Audiomontage der Interviews. Dann halten wir an verschiedenen Stationen, wo die Schauspieler die Geschichten in Szene setzen und Initiativen ihre Arbeit vorstellen. So verbreiten sich die Heldengeschichten schnell und die Kommunikation untereinander kommt in Gang.

Was erwartet uns in Zossen?

Hortkinder zeigen uns die Bunker- und Bücherstadt und wir treffen uns mit den Zossener Skatern. Sie zeigen uns die Stadt aus ihrer Perspektive, erklären, was ihnen wichtig ist, und wie sie sich für ihre Leidenschaft einsetzen. Etwa mit einer Skatebahn, für die sie Verhandlungen mit der Stadt geführt und Spenden gesammelt haben. Inzwischen ist sie Anlaufpunkt für viele Jugendliche, die teilweise extra aus 30 Kilometern Entfernung nach Zossen fahren. Wir unterstützen Subkulturen wie die der Skater, um darüber Subkulturen wie die der Nazis zu schwächen.

Du kommst aus Nordwestdeutschland und verbringst gerade viel Zeit im Osten. Wie siehst Du die dritte Generation Ostdeutscher?

Als Kind bin ich mehrmals im Jahr mit meiner Familie nach Brandenburg gefahren, um mit Freunden die Ferien zu verbringen. Meine Eltern und die anderen Familien wollten den Ost-West-Austausch stärken und demokratische Bewegungen unterstützen. Als die Mauer fiel, war ich sieben, mit der DDR verbinden mich meine lebhaftesten Kindheitserinnerungen. Mein Freund ist Brandenburger und ich fahre auch privat nach wie vor oft in die Region. Ich fühle mich sehr mit der 3ten Generation Ost verbunden.

Du bist viel im Osten unterwegs, sind Phänomene wie Abwanderung für Dich im Alltag sichtbar?

In Mecklenburg-Vorpommern stehen viele Gebäude leer und auf den Straßen begegnen einem nur wenige Menschen. Zossen hingegen freut sich über jede Menge Zuzug. Die Stadt erhebt den geringstmöglichen Gewerbesteuerhebesatz, deswegen ist es hier besonders lukrativ, Unternehmen zu gründen. Der wunderschöne Marktplatz ist trotzdem meistens recht leer. Der Stadtteil Dabendorf zieht viele Menschen an, die zum Beispiel in Berlin arbeiten, aber im Grünen leben wollen. Auch nach Mecklenburg-Vorpommern ziehen Leute, vor allem viele Künstler und junge Familien aus Polen, die in Stettin arbeiten und in der Grenzregion auf deutscher Seite leben. Das birgt wahnsinniges Potenzial für die Region.

Illustration: Alexander Fromm, Interview: Sabine Weier


Mit dem richtigen Spirit weiter vorwärts!

24. Mai 2012 | 10:13 Uhr

Vor rund zwei Jahren initiierte Adriana Lettrari die 3te Generation Ost. In ein paar Tagen sitzt sie mit ihren Mitstreitern, einem Dokumentarfilmteam und Pressebegleitern im Bus und tourt durch den Osten Deutschlands mit einem dichten Programm. Im Interview steht sie Rede und Antwort: Warum noch über Ost und West reden? Und wie kam eigentlich die Auswahl der Tourstopps zustande?

Die Tour ist das erste Projekt dieser Art – und auch ein bisschen abenteuerlich. Worauf freust Du Dich besonders?

Unsere Bustour ist aus dem Spirit des ersten Generationstreffen der 3ten Generation Ostdeutschland im Juli 2011 in Berlin entstanden. Dort haben sich 150 Menschen auf den Weg gemacht, ihre Sprachlosigkeit und Unsichtbarkeit zu überwinden und einen neuen Dialog mit sich selbst, mit der zweiten und ersten Generation Ost sowie der dritten Generation West zu finden. Unser Zukunftsblick ist dabei ein europäischer. In einem Jahr ist unglaublich viel passiert: Intensive Gespräche haben stattgefunden – zu zweit, in Gruppen, auf öffentlichen Podien und in den Medien.

Ich freue mich besonders darauf, diesen berührenden und erkenntnisreichen Austausch auf unserer Bustour in Ostdeutschland mit allen, die neugierig auf uns sind, weiter zu führen – die dritte Generation vor Ort kennen zu lernen. Und in zehn Tagen mit 20 Personen in einem Bus einmal von Nord nach Süd durch ganz Ostdeutschland zu fahren ist schon auch ein Kindheitstraum!

Der Bus steuert abgelegene Orte wie Kirschau in Ostsachsen und aufstrebende Städte wie Halle an. Leipzig und Dresden, Vorzeigestädte für die Entwicklung Ost, sind nicht dabei. Wie kam die Auswahl der Tourstopps zustande?

Dem Strategieteam war es wichtig, alle 2.000 Personen unseres Netzwerks zu fragen: Wer hat Lust, in seinem Heimatort mit lokalen Partnern vor Ort eine Veranstaltung im Rahmen der Bustour zu organisieren – wieder Kontakt aufzunehmen zu dem Ort, an dem wir manchmal nur noch unsere Eltern und Großeltern kennen? Und zu schauen, wo sich die dritte Generation Ost „versteckt“. Zudem wollten wir nicht nur die prosperierenden ostdeutschen Städte bespielen, wo sich spannende Dialoge bereits entwickeln. Den ländlichen Raum mit in den Blick zu nehmen war uns sehr wichtig.

Immer wieder melden sich Menschen zu Wort, die der Debatte um „Ost“ und „West“ überdrüssig sind. Warum ist sie trotzdem noch sinnvoll?

Heiner Müller spricht von „Narben ohne Wunden“ bezüglich des intergenerationalen Erbes, welches wir mit uns tragen. Die Aufgabe unserer Generation – Ost und West – ist die persönliche und gesellschaftliche Überwindung jeglichen Gefühls von „Fremdheit“ zueinander mit Hilfe der Aufarbeitung unserer Geschichte. Das haben unsere Eltern nicht in vollem Umfang geschafft.

Die Initiative will unterwegs mit der 3ten Generation Ostdeutscher ins Gespräch kommen. Welche Fragen brennen Euch auf der Zunge?

Uns interessiert grundsätzlich, Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges zu beflügeln: Wie hat die dritte Generation Ostdeutscher ihre Kindheit und Jugend in zwei Systemen erlebt? Wie steht es um die Ostdeutschen und Ostdeutschland heute? Wie können und wollen wir uns in zukünftige gesellschaftliche Herausforderungen aktiv einbringen mit unserer Transformationserfahrung?

Illustration: Alexander Fromm, Interview: Sabine Weier


„Hier muss man selber machen, wenn man etwas erleben will“

23. Mai | 20:44 Uhr

Wendekind Ulrike Nimz, Jahrgang 1983, wuchs in Rostock auf, studierte Germanistik in Rostock und Journalistik in Leipzig. Heute ist sie Reporterin bei der Tageszeitung Freie Presse, arbeitet in Chemnitz und verbringt die Wochenenden in Leipzig. Sie begleitet die ersten Tourtage und berichtet aktuell.

Wie bist Du auf die 3te Generation Ost gestoßen?

Freunde haben mich ein paar Monate vor der Konferenz im vergangenen Jahr auf die Initiative aufmerksam gemacht. Den Gedanken dahinter konnte ich nachvollziehen: Die Generation der Wendekinder ist nie wirklich nach ihren DDR- und Umbruchserfahrungen gefragt worden. Auch die Auseinandersetzung mit der Eltern- oder Großelterngeneration hat in vielen Fällen kaum  stattgefunden.

Du bist für Deinen Job nach Chemnitz gegangen. Wie ist es dort?

Chemnitz ist eine Stadt mit vielen Problemen, die einem sicher nicht auf den ersten Blick sympathisch ist. Jena ist Boomtown, Leipzig und Dresden sind bunter und jünger. Rostock hat das Meer – Chemnitz hat vor allem einen schlechten Ruf, ist keine Stadt, in der sich die Kreativen nur so stapeln. Das hat aber auch Vorteile: Wer hier was anpackt, ist immer Avantgarde.

Als Journalistin schreibst Du auch über Engagierte und aufstrebende junge Menschen aus Chemnitz und Sachsen. Was machen die?

Ein Vorzeigebeispiel, das gerade bundesweit in den Medien stattfindet, ist die Chemnitzer Band Kraftklub, die streng genommen Teil eines kleinen aber feinen Netzwerks von Kreativen ist. Das gibt es in anderen Städten natürlich auch, aber ich glaube, dass hier der Zusammenhalt größer ist – wie das immer so ist, wenn man in einer feindlichen Umgebung überleben will. Ich bin immer wieder überrascht, wenn doch mal wieder eine kleine Bar in einem leerstehenden Haus eröffnet, oder so etwas. Das ist schon eine Leistung, denn Erfolgsgeschichten sind ziemlich rar in Chemnitz. Irgendjemand schreit immer Ruhestörung, alternative Projekte werden kritisch beäugt. Und doch haben junge Leute verstanden, dass man hier selber machen muss, wenn man etwas erleben will.

Was müsste denn in Städten wie Chemnitz passieren, damit die 3te Generation Ost da mehr bewegen kann?

Ich glaube, man müsste sie einfach mal machen lassen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass es den Drang gibt, alles reglementieren zu wollen. Wenn etwas nicht ins Schema passt, Wächterhäuser, Volxküche, dann ist es suspekt. Gott sei Dank entstehen aber trotzdem immer wieder kleine urbane Inseln, initiiert von Leuten, denen Einkaufspassagen und noch ein Cineplex-Kino nicht reichen.

Du begleitest uns für ein paar Tage und berichtest von der Tour. Worauf freust Du Dich am meisten?

Ich finde die Führung in Zossen mit Swantje Tobiassen und Benno Plassmann spannend. Die beiden leiten dort ja ein von der Amadeu Antonio Stiftung initiiertes Projekt. Ich komme aus Mecklenburg-Vorpommern und weiß, wie wichtig Engagement gegen Rechts ist, gerade im ländlichen Raum, wo sich die etablierten Parteien längst zurückgezogen haben. Es ist schon komisch, wie allgegenwärtig das Thema Rechtsextremismus für uns Wendekinder ist. Wer in Rostock oder Chemnitz groß geworden ist, vielleicht bunte Haare hatte, weiß genau, welche Gegend man nachts besser meidet, und wann es Zeit wird, die Straßenseite zu wechseln. Das war und ist Alltag. Während des Studiums habe ich viele Leute aus den alten Bundesländern kennengelernt, die immer ganz erschrocken geguckt haben, wenn man das erzählt hat. Die kannten das aus ihren Dörfern nicht. Da bin ich schon ins Grübeln gekommen.

Illustration: Alexander Fromm, Interview: Sabine Weier