Demografischer Wandel im Zeitraffer

28. Mai 2012 | 18:23 Uhr

 

Bildungsaktivist Sebastian Hirsch beschäftigt sich damit, wie sich Lernen und Wissen im digitalen Zeitalter verändern, und betreut Projekte wie das „Education Innovation Lab“ an der Humboldt-Viadrina School of Governance. Mit praktischen Ideen kämpft er gegen Ungerechtigkeit im Bildungssystem und für Chancengleichheit – ein gesamtdeutsches Anliegen. Für die Tour 2012 der 3ten Generation Ost hat er in seiner Heimatstadt Schwedt einiges auf die Beine gestellt.

Du hast für den ersten Tourstopp in Schwedt die Diskussion „Teil der Lösung!“ initiiert, was erwartet uns?

Fachkräftemangel und bürgerschaftliches Engagement sind ja auf der gesamten Tour Thema. Schwedt steht in vielerlei Hinsicht exemplarisch für Entwicklungen in Ostdeutschland. Ein ganz heißes Thema ist dort gerade die Schließung der Kinderklinik, eine kleine Katastrophe für Familien. Ein Arzt ist weggegangen, ein anderer krank geworden – Ersatz konnte nicht gefunden werden. Das wird sicher für eine rege Diskussion sorgen. Auch Vertreter von PCK sind dabei, die Erdöl-Raffinerie ist der größte Arbeitgeber in der Region und hat ein Team für die Standortentwicklung eingesetzt. Heute arbeiten noch rund 3.000 Menschen dort, das waren mal sehr viel mehr. Auch meine Eltern haben dort gearbeitet.

In Schwedt passiert viel, scheinbar mehr als in anderen Städten. Für die Initiative „Sag ja zu Schwedt“ wurde ein Berliner Kreativteam engagiert. Sally Below von der Agentur Cultural Affairs und Dimitri Hegemann, der in Berlin den Techno-Club Tresor gegründet hat, sollen die Stadt „cooler“ machen. Das ist schon etwas Besonderes, oder?

Ja, vor allem, weil das Projekt von der Stadt beauftragt ist. Schwedt kann mit seinen Herausforderungen beispielhaft für Städte wie zum Beispiel Hoyerswerda stehen. Viele junge Leute sind weggegangen, der demografische Wandel passiert im Zeitraffer, die Stadt vergreist. Die Hälfte der Belegschaft bei PCK wird in den nächsten 15 Jahren in Rente gehen, da steht der Fachkräftemangel schon vor der Tür. Auch Pflegekräfte werden dann sicher gesucht. Auf der Tour und anderen Veranstaltungen der 3ten Generation Ost wollen wir mit Politikern und den Engagierten der Region ins Gespräch kommen und gemeinsam Lösungsansätze entwickeln.

Aber auch ganz junge Menschen werden am ersten Tourtag schon mitreden, bei einem Schulworkshop.

Ja. An meiner alten Schule, dem Gauß-Gymnasium, gestalten wir einen Schulworkshop mit der „vierten Generation“ bei meiner alten Lehrerin für Politische Bildung. Mit Paula Altland ist auch eine Westdeutsche mit von der Partie. Sie kommt aus Düsseldorf hat in Berlin studiert und ist fürs Referendariat nach Schwedt gekommen. Anfangs war sie skeptisch, aber mittlerweile ist sie gut integriert.

In diesem Programm steckt auch ein Stück Deiner eigenen Biografie. Du bist Jahrgang 1983 und Teil der dritten Generation Ost. Haben Dich Deine Erfahrungen als Wendekind geprägt?

Das möchte ich mal ganz nüchtern beschreiben. Nach der Wende gab es in Schwedt 25 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Als junger Mensch hatte man da ein ziemlich düsteres Zukunftsbild vor Augen. Da war schnell klar: Hier kannst und willst du nicht bleiben. Mal schauen, wo es hingeht. Mein Bruder ist zum Beispiel zum Studium in Berlin gelandet und hat dann einen Job in Freiburg bekommen. Aus meiner früheren Klasse gibt es wirklich nur eine Hand voll Dagebliebener. Ich habe in Bremen studiert, nach einer Weile in Schwedt bin ich jetzt gerade wieder nach Berlin gezogen.

Illustration: Alexander Fromm, Interview: Sabine Weier


Was haben wir eigentlich erlebt?

27. Mai 2012 | 12:38 Uhr

 

Gleich zum Tourauftakt am 30. Mai in Schwedt geht es mit Biografieworkshops zur Sache – eine Erfindung der Sozialpädagogin Juliane Cieslack, Wendekind Jahrgang 1982. Sie wuchs in Seifhennersdorf in der Oberlausitz im Dreiländereck Deutschland, Polen, Tschechien auf, studierte Soziologie, Politikwissenschaften und Slawistik in Potsdam, sattelte dann auf Sozialpädagogik um. In Potsdam lebt und arbeitet sie immer noch.

Was hat Dich zu den Biografieworkshops inspiriert?

Die Idee kam bei der Konferenz der 3ten Generation Ost im letzten Jahr auf, wo es ja auch diese „Murmelgruppen“ zur Vergangenheit gab. Ich habe gemerkt, dass das Interesse an der Aufarbeitung der eigenen Biografie groß ist. Mit dem Thema Ost und West hatte ich mich schon länger und in verschiedenen Formaten beschäftigt. Die Biografieworkshops führe ich zusammen mit Paula Hannaske durch.

Und wie läuft das ab?

In einem Workshop sind meist sechs bis acht Teilnehmer. Es gibt „Zuhöraustausche“ in Zweiergruppen, bei denen es um eine bestimmte Frage geht. Einer erzählt, der andere hört ganz ohne Kommentare zu. Fragen können zum Beispiel sein: „Wie hast du die Wendezeit erlebt?“, „Wie ist es so in Deinem Heimatort?“ oder „Wie war die Schule für dich?“. Danach kann jeder in der Runde von seinen Erfahrungen berichten. Meist entdeckt man viele Gemeinsamkeiten oder erinnert sich an Sachen, an die man schon lange nicht mehr gedacht hat. Ein bisschen erobert man so seine eigene Vergangenheit für sich zurück.

Wahrscheinlich entdecken die Teilnehmer beim Eintauchen in ihre Biografien viele Gemeinsamkeiten ...

Klar. Die Wende war natürlich für alle ein einschneidendes Erlebnis – ob positiv oder negativ. Wir haben alle nichts oder nicht viel von unseren Eltern erklärt bekommen, denn die waren ja erstmal mit sich selbst beschäftigt. Die Schule änderte sich für alle von heute auf morgen, ein ziemliches Chaos. Der Systemwechsel hatte tiefgehende Auswirkungen auf Familien, Gefühle von Angst und Unsicherheit waren für viele Alltag.

Ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie ein dringendes Bedürfnis der dritten Generation Ostdeutscher?

Für viele, aber nicht für alle. Manche graben nicht so gerne in der Vergangenheit herum. Aber es soll ja darum gehen, einen Teil seines eigenen Lebens zu erschließen und zurückzuerobern. Nach der Wende mussten wir uns sofort assimilieren. Jetzt können wir damit beginnen zu fragen: Was haben wir eigentlich erlebt? Wie sind wir aufgewachsen? Welche positiven Erinnerungen haben wir? Welche negativen? Was fühlen wir zu bestimmten Themen? Wie wollen wir jetzt leben? Ich denke, dass die Auseinandersetzung mit der DDR für uns leichter ist, als für die erste oder die zweite Generation. Für unsere Zukunft liegen darin echte Chancen.

Du begleitest die gesamte Tour. Worauf freust Du Dich besonders?

Natürlich auf die Biografieworkshops in Schwedt und Schwerin, darauf, interessierte Leute in ganz Ostdeutschland kennenzulernen, und auf den Austausch mit den anderen.

Illustration: Alexander Fromm, Interview: Sabine Weier


„Ich bin auf den Crashtest mit der Wirklichkeit gespannt!“

25. Mai 2012 | 20:40 Uhr

Filmemacher Gunther Scholz, Vertreter der ersten Generation Ost, hält die Tour 2012 in einem Dokumentarfilm fest. Er hat schon zahlreiche Spiel- und Dokumentarfilme realisiert und Preise wie den Bayrischen Fernsehpreis für „Als die Mauer fiel – 50 Stunden, die die Welt veränderten“ abgeräumt. Mit Filmperlen wie „Sag mir, wo die Schönen sind“, den er 2008 bei der Berlinale vorstellte, ruft er ein Stück DDR-Alltag in Erinnerung.

Sein Team bei der Tour: An der Kamera Florian Lampersberger, Student an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf in Potsdam-Babelsberg, Projektassistentin Nadja Smith hält die zweite Kamera ins Geschehen und führt Interviews, und für guten Ton wechseln sich Velin Marcone und Matthias Kreitschmann ab.

Themen wie Mauerfall, Wendeerfahrung und die Auswirkung auf Biografien ziehen sich quer durch Deine Filmografie. Was fasziniert Dich daran?

Gerade in den letzten fünf Jahren haben mich diese Themen unter dem Motto „unser zweites Leben“ beschäftigt. Natürlich begreife ich die Wende als großen Schnittpunkt, an dem sich das Leben vieler stark verändert hat. Mich interessiert die Erfahrung, in zwei Systemen gelebt zu haben und nicht zuletzt auch Teil eines bewegten Abschnitts der Geschichte zu sein.

Der Dokumentarfilm zur Tour der 3ten Generation Ost wird mit der Unterstützung der Babelsberger Filmhochschule Konrad Wolf realisiert. Was verbindet Dich mit der Hochschule und Babelsberg?

Ich bin selbst Absolvent, 1971 habe ich dort mein Regie-Diplom abgelegt. Schon mit 17, nach einer Lehre als Schriftsetzer, wusste ich, dass ich Filme machen will. 1978 habe ich dann als Regisseur bei der DEFA endlich meinen ersten Langspielfilm gedreht, sechs waren es insgesamt. Wir waren staatlich angestellt, konnten aber nur alle zwei bis drei Jahre einen Film drehen, die DEFA machte pro Jahr nur 17 oder 18 Filme und wir waren 42 Regisseure. Das war mir natürlich zu wenig, also habe ich begonnen, mir zwischendrin Dokumentarfilme zu organisieren. Das hat sich später ausgezahlt – seit 1996 mache ich nur noch Dokumentarfilme.

Hast Du als Filmemacher in der DDR Zensur und Reglementierungen auch inhaltlich zu spüren bekommen?

Wir wollten mitwirken, verbessern und verändern, und haben versucht, auch kritische Sichten auf die Leinwand zu bringen, wenngleich auch in wesentlich bescheidenerem Rahmen als unsere polnischen oder tschechischen Kollegen. Die waren viel radikaler. Wenn man aber einen Film macht und viel Energie reinsteckt, will man natürlich auch, dass er aufgeführt wird. Gleichzeitig bestand diese Abhängigkeit vom Geldgeber, dem Staat. Es gab regelmäßig kontroverse Diskussionen, teilweise um lächerliche Kleinigkeiten. Die Frage „Kriege ich meinen Film durch?“ schwang immer mit und dadurch eine gewisse Selbstzensur, die „Schere im Kopf“, wie es so schön heißt.

Worauf freust Du Dich am meisten bei der Tour?

Ich bin sehr auf den Crashtest mit der ostdeutschen Wirklichkeit gespannt, deswegen interessiert mich das Marktplatz-Format besonders, bei dem die 3te Generation Ost sich an öffentlichen Orten vorstellt und mit Leuten ins Gespräch kommen will. Wird das funktionieren? Was wird passieren? Das gilt genauso für den Film: Man weiß vorher nicht, was tatsächlich passiert und wie der Film am Ende aussehen wird. Aber ich bin sicher, dass viel spannendes Material entsteht und freue mich auf die gemeinsame Zeit mit der Bustour-Truppe.

Illustration: Alexander Fromm, Interview: Sabine Weier


„Mit der DDR verbinden mich meine lebhaftesten Kindheitserinnerungen“

25. Mai 2012 | 13:00 Uhr

Swantje Tobiassen leitet das Projekt „Region in Aktion – Kommunikation im ländlichen Raum‟ der Amadeu Antonio Stiftung. Sie wuchs in einem kleinen Ort an der Nordsee auf, war aber als Kind schon regelmäßig in den Ferien in Ostdeutschland. Am Tour-Stopp Zossen zeigt sie uns mit Skatern die Stadt.

Was für ein Projekt ist „Region in Aktion‟?

Das Projekt will mit Mitteln der darstellenden Kunst herausfinden, wie Menschen in ländlichen Regionen miteinander kommunizieren, die demokratische Kultur vor Ort stärken und zivilgesellschaftliche Initiativen unterstützen. In Zossen kooperieren wir mit der Bürgerinitiative „Zossen zeigt Gesicht‟ und im vorpommerschen Fahrenwalde mit dem Verein Schloss Bröllin. Vor 20 Jahren haben sich dort Künstler niedergelassen und einen Ort für Begegnungen, Theater- und Kunstprojekte geschaffen. Außerdem arbeiten wir mit Schauspielern von „The Working Party‟ aus Berlin zusammen, künstlerischer Leiter und Regisseur ist Benno Plassmann.

Und Ihr bekämpft Rechtsextremismus ...

Vor allem geht es darum, Leute miteinander ins Gespräch zu bringen. Und wir wollen eine Kultur der gegenseitigen Anerkennung schaffen. Das ist ein sehr wichtiger Aspekt im Kampf gegen Rechts. Als wir angefangen haben, in den Regionen zu arbeiten, haben wir Initiativen eingeladen und hatten wahnsinnig viel Zulauf. Wir wollen demokratisches Engagement sichtbar machen. Um das auch medial zu verbreiten, wird es im Nordkurier in Zukunft die Serie „Helden der Region“ geben. Initiativen wie die 3te Generation Ostdeutschland stehen für mich für eine Generation, die sich neugierig und kritisch mit ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinandersetzt und ihre Rolle in der demokratischen Gestaltung der Gesellschaft wahrnimmt. So können Nazis am sinnvollsten bekämpft werden.

Und wie kommt „The Working Party‟ ins Spiel?

Zum Beispiel bei der Aktion „held/in_dorf‟. Benno Plassmann hatte die Idee, den von Neonazis besetzten Begriff „Held‟ wieder neu aufzuladen. Wir befragen Leute zu ihren Helden, um zu erfahren, welche Menschen in ihrer Umgebung Bemerkenswertes leisten. Die Interviews nehmen wir auf und Schauspieler nutzen sie als Vorlage für kurze Theaterszenen. Am 7. und 8. September laden wir Beteiligte und Interessierte zu einer Busfahrt durch die Region ein. Im Bus hören wir eine Audiomontage der Interviews. Dann halten wir an verschiedenen Stationen, wo die Schauspieler die Geschichten in Szene setzen und Initiativen ihre Arbeit vorstellen. So verbreiten sich die Heldengeschichten schnell und die Kommunikation untereinander kommt in Gang.

Was erwartet uns in Zossen?

Hortkinder zeigen uns die Bunker- und Bücherstadt und wir treffen uns mit den Zossener Skatern. Sie zeigen uns die Stadt aus ihrer Perspektive, erklären, was ihnen wichtig ist, und wie sie sich für ihre Leidenschaft einsetzen. Etwa mit einer Skatebahn, für die sie Verhandlungen mit der Stadt geführt und Spenden gesammelt haben. Inzwischen ist sie Anlaufpunkt für viele Jugendliche, die teilweise extra aus 30 Kilometern Entfernung nach Zossen fahren. Wir unterstützen Subkulturen wie die der Skater, um darüber Subkulturen wie die der Nazis zu schwächen.

Du kommst aus Nordwestdeutschland und verbringst gerade viel Zeit im Osten. Wie siehst Du die dritte Generation Ostdeutscher?

Als Kind bin ich mehrmals im Jahr mit meiner Familie nach Brandenburg gefahren, um mit Freunden die Ferien zu verbringen. Meine Eltern und die anderen Familien wollten den Ost-West-Austausch stärken und demokratische Bewegungen unterstützen. Als die Mauer fiel, war ich sieben, mit der DDR verbinden mich meine lebhaftesten Kindheitserinnerungen. Mein Freund ist Brandenburger und ich fahre auch privat nach wie vor oft in die Region. Ich fühle mich sehr mit der 3ten Generation Ost verbunden.

Du bist viel im Osten unterwegs, sind Phänomene wie Abwanderung für Dich im Alltag sichtbar?

In Mecklenburg-Vorpommern stehen viele Gebäude leer und auf den Straßen begegnen einem nur wenige Menschen. Zossen hingegen freut sich über jede Menge Zuzug. Die Stadt erhebt den geringstmöglichen Gewerbesteuerhebesatz, deswegen ist es hier besonders lukrativ, Unternehmen zu gründen. Der wunderschöne Marktplatz ist trotzdem meistens recht leer. Der Stadtteil Dabendorf zieht viele Menschen an, die zum Beispiel in Berlin arbeiten, aber im Grünen leben wollen. Auch nach Mecklenburg-Vorpommern ziehen Leute, vor allem viele Künstler und junge Familien aus Polen, die in Stettin arbeiten und in der Grenzregion auf deutscher Seite leben. Das birgt wahnsinniges Potenzial für die Region.

Illustration: Alexander Fromm, Interview: Sabine Weier


Mit dem richtigen Spirit weiter vorwärts!

24. Mai 2012 | 10:13 Uhr

Vor rund zwei Jahren initiierte Adriana Lettrari die 3te Generation Ost. In ein paar Tagen sitzt sie mit ihren Mitstreitern, einem Dokumentarfilmteam und Pressebegleitern im Bus und tourt durch den Osten Deutschlands mit einem dichten Programm. Im Interview steht sie Rede und Antwort: Warum noch über Ost und West reden? Und wie kam eigentlich die Auswahl der Tourstopps zustande?

Die Tour ist das erste Projekt dieser Art – und auch ein bisschen abenteuerlich. Worauf freust Du Dich besonders?

Unsere Bustour ist aus dem Spirit des ersten Generationstreffen der 3ten Generation Ostdeutschland im Juli 2011 in Berlin entstanden. Dort haben sich 150 Menschen auf den Weg gemacht, ihre Sprachlosigkeit und Unsichtbarkeit zu überwinden und einen neuen Dialog mit sich selbst, mit der zweiten und ersten Generation Ost sowie der dritten Generation West zu finden. Unser Zukunftsblick ist dabei ein europäischer. In einem Jahr ist unglaublich viel passiert: Intensive Gespräche haben stattgefunden – zu zweit, in Gruppen, auf öffentlichen Podien und in den Medien.

Ich freue mich besonders darauf, diesen berührenden und erkenntnisreichen Austausch auf unserer Bustour in Ostdeutschland mit allen, die neugierig auf uns sind, weiter zu führen – die dritte Generation vor Ort kennen zu lernen. Und in zehn Tagen mit 20 Personen in einem Bus einmal von Nord nach Süd durch ganz Ostdeutschland zu fahren ist schon auch ein Kindheitstraum!

Der Bus steuert abgelegene Orte wie Kirschau in Ostsachsen und aufstrebende Städte wie Halle an. Leipzig und Dresden, Vorzeigestädte für die Entwicklung Ost, sind nicht dabei. Wie kam die Auswahl der Tourstopps zustande?

Dem Strategieteam war es wichtig, alle 2.000 Personen unseres Netzwerks zu fragen: Wer hat Lust, in seinem Heimatort mit lokalen Partnern vor Ort eine Veranstaltung im Rahmen der Bustour zu organisieren – wieder Kontakt aufzunehmen zu dem Ort, an dem wir manchmal nur noch unsere Eltern und Großeltern kennen? Und zu schauen, wo sich die dritte Generation Ost „versteckt“. Zudem wollten wir nicht nur die prosperierenden ostdeutschen Städte bespielen, wo sich spannende Dialoge bereits entwickeln. Den ländlichen Raum mit in den Blick zu nehmen war uns sehr wichtig.

Immer wieder melden sich Menschen zu Wort, die der Debatte um „Ost“ und „West“ überdrüssig sind. Warum ist sie trotzdem noch sinnvoll?

Heiner Müller spricht von „Narben ohne Wunden“ bezüglich des intergenerationalen Erbes, welches wir mit uns tragen. Die Aufgabe unserer Generation – Ost und West – ist die persönliche und gesellschaftliche Überwindung jeglichen Gefühls von „Fremdheit“ zueinander mit Hilfe der Aufarbeitung unserer Geschichte. Das haben unsere Eltern nicht in vollem Umfang geschafft.

Die Initiative will unterwegs mit der 3ten Generation Ostdeutscher ins Gespräch kommen. Welche Fragen brennen Euch auf der Zunge?

Uns interessiert grundsätzlich, Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges zu beflügeln: Wie hat die dritte Generation Ostdeutscher ihre Kindheit und Jugend in zwei Systemen erlebt? Wie steht es um die Ostdeutschen und Ostdeutschland heute? Wie können und wollen wir uns in zukünftige gesellschaftliche Herausforderungen aktiv einbringen mit unserer Transformationserfahrung?

Illustration: Alexander Fromm, Interview: Sabine Weier


„Hier muss man selber machen, wenn man etwas erleben will“

23. Mai | 20:44 Uhr

Wendekind Ulrike Nimz, Jahrgang 1983, wuchs in Rostock auf, studierte Germanistik in Rostock und Journalistik in Leipzig. Heute ist sie Reporterin bei der Tageszeitung Freie Presse, arbeitet in Chemnitz und verbringt die Wochenenden in Leipzig. Sie begleitet die ersten Tourtage und berichtet aktuell.

Wie bist Du auf die 3te Generation Ost gestoßen?

Freunde haben mich ein paar Monate vor der Konferenz im vergangenen Jahr auf die Initiative aufmerksam gemacht. Den Gedanken dahinter konnte ich nachvollziehen: Die Generation der Wendekinder ist nie wirklich nach ihren DDR- und Umbruchserfahrungen gefragt worden. Auch die Auseinandersetzung mit der Eltern- oder Großelterngeneration hat in vielen Fällen kaum  stattgefunden.

Du bist für Deinen Job nach Chemnitz gegangen. Wie ist es dort?

Chemnitz ist eine Stadt mit vielen Problemen, die einem sicher nicht auf den ersten Blick sympathisch ist. Jena ist Boomtown, Leipzig und Dresden sind bunter und jünger. Rostock hat das Meer – Chemnitz hat vor allem einen schlechten Ruf, ist keine Stadt, in der sich die Kreativen nur so stapeln. Das hat aber auch Vorteile: Wer hier was anpackt, ist immer Avantgarde.

Als Journalistin schreibst Du auch über Engagierte und aufstrebende junge Menschen aus Chemnitz und Sachsen. Was machen die?

Ein Vorzeigebeispiel, das gerade bundesweit in den Medien stattfindet, ist die Chemnitzer Band Kraftklub, die streng genommen Teil eines kleinen aber feinen Netzwerks von Kreativen ist. Das gibt es in anderen Städten natürlich auch, aber ich glaube, dass hier der Zusammenhalt größer ist – wie das immer so ist, wenn man in einer feindlichen Umgebung überleben will. Ich bin immer wieder überrascht, wenn doch mal wieder eine kleine Bar in einem leerstehenden Haus eröffnet, oder so etwas. Das ist schon eine Leistung, denn Erfolgsgeschichten sind ziemlich rar in Chemnitz. Irgendjemand schreit immer Ruhestörung, alternative Projekte werden kritisch beäugt. Und doch haben junge Leute verstanden, dass man hier selber machen muss, wenn man etwas erleben will.

Was müsste denn in Städten wie Chemnitz passieren, damit die 3te Generation Ost da mehr bewegen kann?

Ich glaube, man müsste sie einfach mal machen lassen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass es den Drang gibt, alles reglementieren zu wollen. Wenn etwas nicht ins Schema passt, Wächterhäuser, Volxküche, dann ist es suspekt. Gott sei Dank entstehen aber trotzdem immer wieder kleine urbane Inseln, initiiert von Leuten, denen Einkaufspassagen und noch ein Cineplex-Kino nicht reichen.

Du begleitest uns für ein paar Tage und berichtest von der Tour. Worauf freust Du Dich am meisten?

Ich finde die Führung in Zossen mit Swantje Tobiassen und Benno Plassmann spannend. Die beiden leiten dort ja ein von der Amadeu Antonio Stiftung initiiertes Projekt. Ich komme aus Mecklenburg-Vorpommern und weiß, wie wichtig Engagement gegen Rechts ist, gerade im ländlichen Raum, wo sich die etablierten Parteien längst zurückgezogen haben. Es ist schon komisch, wie allgegenwärtig das Thema Rechtsextremismus für uns Wendekinder ist. Wer in Rostock oder Chemnitz groß geworden ist, vielleicht bunte Haare hatte, weiß genau, welche Gegend man nachts besser meidet, und wann es Zeit wird, die Straßenseite zu wechseln. Das war und ist Alltag. Während des Studiums habe ich viele Leute aus den alten Bundesländern kennengelernt, die immer ganz erschrocken geguckt haben, wenn man das erzählt hat. Die kannten das aus ihren Dörfern nicht. Da bin ich schon ins Grübeln gekommen.

Illustration: Alexander Fromm, Interview: Sabine Weier

 


Die Bus-Tour 2012 im Blog

 

Mehr als Disney

23. Mai 2012 | 11:06 Uhr

Mit dem Bus unterwegs sein passt zur 3ten Generation Ost. Denn sie ist eine rastlose, wie viele Biografien zeigen. Gerade in ländlichen Gegenden Geborene wandern schon fürs Studium ab, zum Beispiel in eine größere ostdeutsche Stadt wie Leipzig oder Jena, oft auch in den Westen. Spätestens für den Job heißt es „Heimat ade‟, zurück bleibt vor allem die erste Generation. Das Gespenst der „Vergreisung‟ geht in ostdeutschen Ländern um.

Alexander Fromm alias Alf hat es für uns illustriert, mit einem leicht ironischen Schmunzeln. Denn zum Glück sieht es nicht ganz und gar und überall so düster aus: Projekte, Ideen, junge Engagierte, Dagebliebene und Rückkehrer gehören nämlich auch zur 3ten Generation Ost. Und die wollen mehr als „Dis-nee‟, nämlich eine lebendige, kulturell vielfältige Gesellschaft und Perspektiven für eine eigene Zukunft.

Eintauchen in einen zeitgenössischen Diskurs

Rund 100 Menschen haben zur Tour 2012 und dem Programm beigetragen. An dieser Stelle: Danke! Wir trafen Engagierte und ließen uns vor Ort von ihren Ideen inspirieren, sprachen mit Politikern und Wirtschaftsexperten über die Entwicklung ländlicher Gegenden und urbaner Strukturen, schauen uns Orte der Geschichte wie das ehemalige Stasigefängnis in Bautzen an, kommen auf Marktplätzen mit Bürgern ins Gespräch, schlagen zusammen mit Jugendlichen Wünsche und Hoffnungen an die Thesentür der Schlosskirche in der Lutherstadt Wittenberg, lassen uns mit den literarisch verarbeiteten Erfahrungen von Wendekindern berieseln und erleben noch viel mehr. Sicher auch einiges, das wir nicht eingeplant haben – ein bisschen Abenteuergeist gehört dazu.

Natürlich rollt unser Bus an grauen Plattenbauten vorbei, steuert aber auch architektonische Highlights wie das Haus Schmicke an, einer der herausragenden Wohntempel der Moderne im „International Style‟, entworfen 1930 für einen Löbauer Nudelfabrikanten. Der Osten ist bunt.

Im Netz dabei sein

Wir machen Station an historischen Orten, tauchen aber auch kopfüber in einen zeitgenössischen Diskurs über den Osten ein und fragen, wo es hingeht. Antworten geben uns Mittourer und die Protagonisten der vielen Podiumsdiskussionen, Lesungen und Führungen. In diesem Blog stellen Sabine Weier (Text, Fotos) und Alexander Fromm (Illustrationen) einige von ihnen vor, blicken in ihre Biografien und geben einen Vorgeschmack auf Programmpunkte. Auch während der Tour bloggen sie hier für alle, die den großen Roadtrip im Netz miterleben wollen.

Natürlich freuen wir uns auch auf die zweite und die erste Generation – und haben sicher mehr als „Dis-nee‟ zu besprechen. Zum Beispiel persönliche Geschichten und all das, was sich zur Zeit nach vorne bewegt. Wir sagen: „Dis-ja‟!

Artikel von Ulrike Nimz in der Freien Presse